Musik für Dich, ein Büchlein von Dr. Fritz Bose
1934 war die Machtergreifung der Nationalsozialisten gerade mal 1 Jahr her und die deutsche Kultur wurde "neu ausgerichtet". Volk, Vaterland und die (etwas verfälschte) deutsche Geschichte wurde nun heroisiert und propagandistisch herausgehoben.
Dennoch stehen in diesem Büchlein eine Menge verständlicher neutraler Informationen über die Musik, die Arten und die Instrumente - und so schön aufgelistet, daß ich sie Ihnen ans Herz legen möchte. Schnuppern sie mal und wenn es ab und zu politisch komisch angehaucht scheint, lächeln Sie und überlesen Sie die "Zeitgeist Sprüche" - es ist hier noch 1934 und wir wissen es doch inzwischen besser. Überarbeitet im Januar 2015.
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Das deutsche Volkslied - Volksgesang und Volkslied
Die Sangesfreudigkeit unseres Volkes ist bekannt in der ganzen Welt. Wo vier Deutsche beisammen sind, singen sie. Nirgends gibt es soviel Gesangvereine wie in Deutschland. Und auf dem Bierabend am Stammtisch, beim Kommers der Studenten ist der Gesang genau so wichtig wie der Alkohol. Kein Familienfest ohne Liedergesang! Kein Kirchenfest ohne Volkslieder! Kein Ausflug ins Grüne ohne Musik!
Kaum ist das letzte Haus der Stadt hinter uns, stimmt schon einer ein Marschlied an, ein Lied vom Wandern, das ja nicht nur des Müllers Lust ist. Dieser Sangesfreudigkeit verdanken wir unseren reichen Schatz an Volksliedern, um den uns andere Völker beneiden, bei denen mit der vorgeschrittenen Zivilisation die Quellen des Volksgesangs schon verschüttet sind. Auch bei uns ist der Volksgesang schon stark im Verfall. In der Stadt und auf dem Land kommt man immer seltener dazu, in geselliger Gemeinschaft zu singen. Das gemeinsame Singen ist aber die Voraussetzung für das Bestehen des Volksgesanges und der Volkslieder.
Vor hundert Jahren gabs nichts Anderes
Vor hundert, ja noch vor fünfzig Jahren gab es an den langen Winterabenden keine andere Unterhaltung als Musik: in der Stadt die Hausmusik im Bürgerhause, auf dem Lande den Volksgesang in der Spinnstube, wo sich die Jugend des Dorfes versammelte. Die Zeit der Spinnstuben ist vorbei und wird nie wiederkehren. Unsere Lebensformen sind andere geworden.
Wir haben die Zeit und den Raum besiegt, wir leben alle Ereignisse der großen Welt durch Rundfunk und Tageszeitung mit; wir haben jede Zerstreuung. Aber wir haben dafür die beschauliche Gemütlichkeit unseres Lebensstils, die Ruhe und den Frieden unseres Familienlebens, die wohltätige Langeweile des Feierabends aufgegeben. Und damit sind viele schöne alte Volksbräuche verlorengegangen.
Und unsere Volkslieder sind heimatlos geworden. Noch leben sie unter uns, und sie werden auch nie ganz sterben. Aber sie haben den Boden verlassen müssen, auf dem sie gewachsen sind: das Bauernhaus, die Spinnstube, den Dorfplatz unter der Linde. Ihre Pfleger sind heute die Schulen und die Vereine, "die Soldaten" ???? (Anmerkung : wir schreiben 1934), Studenten und Wandervögel, Singkreise und Chöre.
Volkslied und Gassenhauer.
Nicht alles, was das Volk singt, ist Volkslied. Das Volk singt auch Bruchstücke aus Opern, Kunstlieder und Choräle, Gassenhauer und Schlager.
Gassenhauer hat es immer und überall gegeben, wir kennen sie aus allen Jahrhunderten. Und sie sind dem Volkslied ja auch nahe verwandt. Und doch sind sie nicht Volkslieder und werden nicht zu Volksliedern. Sie blühen eine Weile und flattern über Stadt und Land. Erst singen sie wenige, dann viele, dann alle. Zuletzt singen sie die Kinder, die Melodie und Text gewöhnlich umgestalten, vereinfachen, den Kinderliedern anpassen. Und dann hört man sie immer weniger, und schnell sind sie vergessen. Darin zeigt sich der gesunde musikalische Sinn des Volkes, daß es diese Erzeugnisse der leichten Muse zwar aufnimmt, aber nach einer gewissen Zeit wieder fallen läßt. Es erfreut sich an ihren flotten oder schmalzigen Melodien, an ihren witzigen oder sentimentalen Texten.
Aber es stellt diese Gassenhauer nicht dem Volkslied gleich. Das eine ist Gebrauchsmusik, für den Tagesbedarf geschaffen, das andere Volkskunst, für viele Generationen Unterhaltungsstoff und musikalisches Erlebnis. Nicht der sentimentale Schlager, nur das Volkslied rührt wirklich an das Herz des Volkes. Es erkennt die Oberflächlichkeit und Unechtheit der Gefühle, das Gemachte in den Schlagern. Und deshalb bekommt es sie so schnell über.
Es empfindet aber auch aus einem natürlichen Instinkt heraus die künstlerischen Mängel, die formale Primitivität des Gassenhauers. Das wahre Volkslied ist alles andere als primitiv. Es ist nach bestimmten, altüberlieferten Gesetzen gebaut, Inhalt und Form sind gleichwertige Bestandteile und die Melodien sind von höchster musikalischer Prägnanz und Ausdruckskraft, sind Kunstwerke im kleinen. Am schönsten brachte das Beethoven zum Ausdruck, der einmal sagte, daß er all seinen Komponistenruhm für die Erfindung der Melodie "Innsbruck, ich muß dich lassen" hingeben wolle.
Gestalt und Wesen des deutschen Volksliedes
Das deutsche Volkslied ist eine ganz besondere musikalische Erscheinung, die sich von allen anderen Musikstücken klar abhebt. Selbst ein unmusikalischer Mensch ist in der Lage, aus einer Reihe von Schallplatten aus allen Gebieten der Musik - Opernarien, Kunstlieder, Schlager, Märsche, Choräle, Stimmungslieder und Volkslieder - das Volkslied herauszufinden. Es ist so charakteristisch, daß es auch der Unmusikalische erkennt.
Das Lied hat mehrere Strophen. Die Strophe ist in mehrere, sich deutlich voneinander abhebende Glieder (Verse) geteilt. Diese Teilung ist nicht willkürlich, sondern streng regelmäßig, nach Vorbildern, die in die ältesten Zeiten germanischer Volksdichtung zurückreichen. Sehr häufig ist die, auch aus der Meistersingerdichtung bekannte, Teilung in zwei musikalisch gleichlautende Vordersätze ("Stollen") und einen Nachsatz ("Abgesang"), z. B. in "Nun ade, du mein lieb Heimatland".
Das Volkslied gegen Kunstlieder und Schlager
Aber denselben gesetzmäßigen Aufbau haben auch Kunstlieder und Schlager. Was das Volkslied noch ganz besonders heraushebt, das ist ein bestimmter musikalischer und textlicher Stil. Wort und Ton haben eine einheitliche
Grundstimmung, die fast allen unsern Volksliedern gemeinsam ist. Sie sprechen alle zu uns in derselben Sprache, mit denselben Empfindungen, mit denselben Klängen. Diese Seelenverwandtschaft der deutschen Volkslieder ist für jedermann spürbar, aber es ist schwer zu sagen, worin sie besteht.
Dabei kann man noch feinere Unterschiede der Stimmung innerhalb des Volksliedschatzes machen. Die süddeutschen Lieder sind ein ganz anderer Typus als die norddeutschen. Landschaftliches und Rassisches kommt hier zum Ausdruck. Auch die Verschiedenheit der Sprachdialekte bedingt verschiedenen musikalischen Ausdruck. Können Sie sich vorstellen, daß man plattdeutsch jodeln kann?
Wer schafft das Volkslied?
Das Volk als Ganzes dichtet und komponiert nicht. Immer sind alle Volkslieder einmal von einem Dichter gedichtet, von einem Komponisten komponiert worden. Bei den meisten unserer heutigen Volkslieder sind uns Dichter und Komponist auch bekannt. Ursprünglich waren sie "volkstümliche" Kunstlieder und sind zu "Volksliedern" erst dadurch geworden, daß das Volk sie in seinen Liederhort aufnahm. In dieser Auswahl des Liedgutes besteht die eigentliche Tätigkeit des Volkes beim Entstehen der Volkslieder. Die andere Tätigkeit des Volks ist die eines Bearbeiters. Text und Melodie werden oft umgestaltet, ehe sie dem Volksmund gerecht sind. Neue Strophen werden zugefügt, alte ausgeschieden, Strophenfolgen geändert, Refrains angehängt, neue Texte zu bestehenden Weisen gebildet, aus anderen Liedern übernommen; Melodien werden vereinfacht, verkürzt, erweitert; verschiedene Lieder werden zu einem verschmolzen, "zusammengesungen".
Ein kontinuierlicher Wandel
Diese Umgestaltungen vollziehen sich dauernd, das Volksliedgut ist in ständiger Veränderung begriffen. Texte und Melodien werden den Erfordernissen der Zeit angepaßt, sie sind nicht für alle Zeiten feststehend, sondern von Zeitströmungen abhängig. In kriegerischen Zeiten werden aus Liebesliedern Schlachtgesänge, in empfindsamen Zeiten wandeln sich alle Volkslieder ins Zarte, Gefühlsbetonte.
Vom "Zusammensingen" und "Zersingen"
Durch das "Zusammensingen" gehen viele Lieder verloren, sie werden "zersungen", werden zu Radau-Refrains, zu sinnlosen Anhängseln besonders der Soldatenlieder. Auf diese Weise und durch natürliche Auslese, d. h. durch
das In-Vergessenheit-Geraten, scheiden ständig Lieder aus dem Liederschatz des Volkes aus. Kommen dafür keine neuen Volkslieder hinzu, weil entweder die Voraussetzung einer national geschlossenen, naturverbundenen singenden Volksgemeinschaft nicht mehr gegeben ist oder weil die Komponisten und Dichter keine "volkstümlichen" Lieder schaffen (wie in der Zeit der Aufklärung zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts oder in der Nachromantik am Ende des neunzehnten Jahrhunderts), so schmilzt der Volksliedschatz stark zusammen. Zeiten nationaler Sammlung und Erhebung, Zeiten nationaler Not und Knechtschaft bringen meist eine starke Belebung des Volksgesanges und neue Bereicherung des Liederschatzes (z. B. Franzosenherrschaft und die
Befreiungskriege am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, der Weltkrieg und die Nationale Revolution).
(Anmerkung : Zum Glück wußte der Verfasser in 1934 noch nichts von dem noch weit schrecklicheren 2. Weltkrieg" - und den herausragenden Schlagern wie Lilli Marlen)
Das Volkslied vergangener Zeiten
Die ständige Veränderung des Volksliedschatzes bringt es mit sich, daß unsere heutigen Volkslieder meist alle jüngeren Ursprungs sind. Nur wenige sind älter als hundert Jahre, die ältesten in ihrer heutigen Gestalt höchstens hundertfünfzig Jahre alt. Damals war eine besondere Blütezeit des Volksliedes. Die Dichter und Komponisten strebten danach, so einfach wie möglich zu schreiben, Lieder, die jedermann singen könne. Viele von diesen "Liedern im Volkston" sind Volkslieder geworden, einige davon noch heute lebendig, z. B. "Der Mond ist aufgegangen" von Matthias Claudius-Wandsbeck, Musik von J. P. A. Schulz-Berlin, 1752).
Aus dieser Bewegung, deren Ursprung und Zentrum damals in Norddeutschland lag ("Berliner Schule", der auch Schulz angehört) erwuchs der deutsche Männergesang, entstanden die Liedertafeln und Gesangvereine, die von so großer Bedeutung für die Pflege und Bewahrung der Volkslieder sind. Die erste Gründung dieser Art war die Berliner Liedertafel, 1809 von Karl Friedrich Zelter, dem Freund und musikalischen Berater Goethes, gegründet.
Die Blütezeit des deutschen Volksliedes
Eine andere Blütezeit des deutschen Volksliedes ist die Renaissance, das Zeitalter der Reformation. Das vorher von den Musikern nicht beachtete Volkslied wird zum ersten Male einer Aufzeichnung würdig gefunden. Man entdeckt die herbe Schönheit dieser Volksweisen, es wird Mode, sie in den Bürgerhäusern zu singen, man bearbeitet sie für die Hausmusik, für Schule und Musikliebhaber und wendet alle Satzkünste des vokalen und instrumentalen Motettenstils daran, recht lebendige, kunstvolle Ehorsätze zu schaffen. In der bedeutendsten Sammlung des fünfzehnten Jahrhunderts, dem Lochamer Liederbuch vom Jahre 1452, stehen einstimmige Volksweisen neben zwei- und dreistimmigen Bearbeitungen.
Viele Hunderte von Liedern enthalten die zahlreichen Liederbücher, die uns aus dem sechzehnten Jahrhundert erhalten sind. Nach der Erfindung des Notendrucks (1481) gehören die Liedersammlungen zu den beliebtesten Musikalien. Alle diese Lieder sind mehrstimmige Kompositionen. Die Komponisten sind meist genannt, aber sie sind wohl sicher nicht die Erfinder, sondern nur die Bearbeiter der Melodien, die Verfasser des kunstvollen mehrstimmigen Liedsatzes. Die Melodien selbst sind wahrscheinlich bedeutend älter. Die Textdichter sind immer ungenannt.
Nichts hat sich erhalten
Von all diesen Hunderten von Liedern hat sich keins bis auf die Gegenwart im Volk am Leben erhalten. Sie sind alle dem Ausleseprozeß verfallen, "zersungen", vergessen, durch andere ersetzt. Nur einige wenige Melodien dieser Zeit haben sich in der Gestalt protestantischer Choräle bis in unsere Tage erhalten. Der von Luther und seinen Mitarbeitern geschaffene protestantische Gemeindegesang suchte eine neue, volkstümliche Form des Kirchengesanges.
Er schuf deshalb neue religiöse, volkstümliche Liedtexte zu bekannten Melodien, und zwar zu bekannten weltlichen Volksweisen, wie auch zu volkstümlichen lateinischen Kirchengesängen (in denen vermutlich auch altes weltliches Volksliedgut verborgen ist). (So besitzt die protestantische Kirche eine ganze Reihe von Chorälen, die einstmals, vor vierhundert Jahren, weltliche Volkslieder waren: "O Haupt voll Blut und Wunden" singen wir zu der Melodie des schönen Liebesliedes. - "Mein Gmüt ist mir verwirret, das macht eine Jungfrau zart", und "Nun ruhen alle Wälder" nach der berühmten Weise Meister Isaaks, des Hofkomponisten Kaiser Maximilians, "Innsbruck, ich muß dich lassen".
Volksgesang in germanischer Zeit
Aus früheren Jahrhunderten ist uns Volksmusik nicht überliefert. Alle Komponisten waren Kirchenmusiker, die Kunst des Notenschreibens verstanden nur Mönche, und die Kirche bekämpfte den Volksgesang als Rest heidnischer Überlieferung. Trotz dieser Gegnerschaft fanden wohl vereinzelt Volksweisen Eingang in die Kirche, und in manchen alten Kirchenmelodien, in Hymnen und Sequenzen mögen Spuren weltlichen Volksgesanges aus früherer Zeit erhalten sein. Aber wir wissen es nicht und werden es nicht wissen. So können wir auch nicht die Gesänge rekonstruieren, die unsere heidnischen Vorfahren sangen. Ihre Lieder sind verklungen und niemand kann sie noch einmal zum Erklingen bringen.
Wir wissen fast nichts aus alter Zeit
Was wir von ihnen wissen, ist wenig genug. Wir wissen, daß die alten Germanen viele Arten von Liedern hatten, Helden- und Götterlieder, Zaubergesänge, die der Skof, der Priester-Sänger, vortrug. Und Volksgesänge, die das Volk zu den verschiedenen Jahreszeiten- und Lebensfesten sang. Viele dieser alten Feste haben sich mit ihren Gebräuchen bis in unsere Tage erhalten, meist von der Kirche übernommen und mit christlichem Sinn erfüllt: das Julfest als Weihnachtsfest, die Silvesternacht mit Schießen und Lärmen, das Karnevalsfest, Feldprozessionen im Frühjahr (Fronleichnam), Sonnenwende, Tanz um den Maibaum, Schützenfest, Kirchweih, Erntefest und viele andere. Aber die alten Melodien, die alten Volkslieder sind uns nicht erhalten.
Alle Gesänge waren in altgermanischer Zeit religiös
Alle Gesänge waren in altgermanischer Zeit religiös, alle Feste und Tänze hatten ursprünglich magische, zauberische Bedeutung, waren Anrufungen der Götter. Die Tänze waren feierliche Prozessionen, Umgehungen der Felder, Schreittänze um den Altar. Erst spät gab es Lieder und Tänze, die nur der Unterhaltung dienten. Spuren alten Volksgutes mögen in unsern Kinderliedern verborgen sein, besonders in den pendelnden Melodien der "Singzeilen" wie "Laterne, Laterne", "Maikäfer, flieg" und unzähligen andern, die alle nach der gleichen Melodie gesungen werden. Diese Melodie ist besonders altertümlich und wohl die älteste deutsche, vielleicht die älteste indogermanische Volksweise. Auch die Texte dieser Kinderlieder und die Spiele dazu ("die goldene Brücke") haben oft beträchtliches Alter und gehen wohl z. T. noch auf alte heidnische Bräuche und Texte zurück.
Bitte beachten Sie, das ist ein Büchlein aus 1934
Bestimmte heroische und deutschnationale Ansichten und die propagandistischen Einschätzungen sind dem damaligen Zeitgeist geschuldet. Sie sollten darüber lächeln, wir wissen es heute besser. Die Texte wurden im Jan. 2015 eingefügt.
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