(13) SCHALLPLATTEN SCHAUPLATZ DEUTSCHLAND
Der korrekt gekleidete Herr mit dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart, der händeklatschend durch den kleinen Hochzeitsraum eines Frankfurter Hotels lief, hatte den modernsten Beruf der Welt entwickelt: Kapellmeister Bruno Seidler-Winkler von der Grammophon leitete nicht nur das große Grammophon-Orchester, sondern arbeitete spezielle Instrumentierungen für die Plattenaufnahmen aus, damit die Instrumente in der Wiedergabe auch richtig klangen und klar zu hören waren.
Seidler-Winkler war ein Meister der Täuschung.
Für einen Baß benutzte er eine Tuba, die er aber so zu placieren wußte, daß sie nicht alles rettungslos an die Wand blies. Für die Celli setzte er Fagotts ein, für die Waldhörner normale Blechmusik, und für die Geigen nahm er einfach Stroh-Violinen. Diese Instrumente - ein Geigensteg mit einem Schalltrichter - hatte August Stroh erfunden, ein englischer Bürger deutscher Herkunft, der für den englischen Kritiker W. H. Preece nach Edisons Angaben den Phonographen gebaut hatte. Die so besetzte Aufnahme klang dann so echt, daß Musikkenner rühmten, man könne selbst ein warmes Cello-Piano genau wahrnehmen.
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Kreidekreise und den Raum "ausklatschen"
Nachdem Seidler-Winkler unter dem verständnislosen Kopfschütteln des Hoteliers den Raum durch Händeklatschen akustisch ausgelotet hatte, malte er große Kreidekreise auf den Boden.
»Hier kommen die Geiger her«, sagte er zu seinem Assistenten, »wir müssen sie aber möglichst hoch setzen, da haben sie die beste akustische Unterstützung.«
Er lief durch den Raum, bremste knapp vor dem Empfangschef und sagte nebenbei:
»Für zwei Tage ist dieser Raum gemietet. Die Rechnung machen Sie dann fertig. Stellen Sie sie für die Grammophon aus.«
Dann malte er einen großen Kreis in eine Ecke: »Hier klingt es am hellsten, eine saumäßige Akustik, also wunderbar für die gefährlichen Blechinstrumente. Außerdem brauchen wir drei Kisten für das Klavier.«
Das versenkte Orchester des Richard Wagner
Er wandte sich an den Hotelier, der noch immer unter der Tür stand: »Haben Sie eine Art Podium ? Dann lassen Sie es doch hierher schaffen.«
Und als dieser sich nur zögernd entfernen wollte, fragte Seidler-Winkler:
»Haben Sie schon einmal etwas von Richard Wagner und Bayreuth gehört?« Der Hotelier nickte eifrig. »Sehen Sie, Wagner hat aus akustischen Gründen sein Orchester versenkt. So etwas Ähnliches machen wir hier auch. Und nun besorgen Sie uns das Podium, damit wir das Klavier möglichst hoch aufbauen können.«
Noch auf der Treppe schüttelte der Empfangschef den Kopf:
»Versenktes Orchester! Und dann stellen sie das Klavier unter die Decke. Da kenne sich einer aus.«
Bruno Seidler-Winkler aber kannte sich genau aus.
»Ein Teufelskerl, dieser Seidler-Winkler !«
Das hatte er bei der Aufnahme von Richard Strauss' »Salome« bewiesen. Der Komponist hatte die Zustimmung zur Plattenaufnahme gegeben, der Verleger Fürstner aber wollte viel Geld für die Partitur von der Grammophon haben.
Da die Aufnahme wegen der starken Konkurrenz drängte, sagte Seidler-Winkler zu seinem Direktor: »Herr Curth, das schaffen wir auch ohne Partitur. Das Geld können wir uns sparen.«
»Wie wollen Sie das denn machen? Ich will zwar Geld sparen, aber auch keinen Ärger haben«, erwiderte Leo B. Curth.
»Warten Sie bis morgen, dann zeige ich Ihnen mehr«, versprach ihm tröstend sein Kapellmeister.
Ein Arrangement mit den Ohren abschreiben
Am gleichen Abend saß Bruno Seidler-Winkler mit einem Assistenten in der Oper. Er hatte Plätze im zweiten Rang genommen, von denen aus er das Orchester genau übersehen konnte, auf seinen Knien lag ein Klavierauszug der »Salome«. Nun paßten die beiden wie die Luchse auf und vermerkten alle Einsätze und instrumentalen Besonderheiten in ihrem Auszug. In der Nacht noch arrangierten sie ihr Manuskript für die Schallplattenaufnahme.
Der Verleger war richtig sauer - aber weiter nichts
und der Kommentar von Meister Strauss :
Die Salome-Platte der Grammophon erschien als erste auf dem Markt. Nach einigen wütenden Anrufen des Verlegers, der sich nicht erklären konnte, woher die Grammophon die Partitur hatte, kam Meister Strauss persönlich, um sich die Aufnahme anzuhören:
»Ich mecht' mir mal mei Salome anhör'n«, sagte er lakonisch zu Direktor Curth, der den Komponisten in den Aufnahmeraum komplimentierte.
Strauss saß still auf seinem Stuhl, die Arme über der Brust verschränkt, und hörte zu. Doch als der letzte Ton verklungen war, fragte er inquisitorisch:
»Wo habt's die Noten her?«
Direktor Curth deutete auf Bruno Seidler-Winkler:
»So, der hat's g'macht. Und wie, wenn ich fragen darf?«
Seidler-Winkler erzählte nun dem Meister alles.
»Die Aufnahme is' guat, sehr guat sogar«, sagte Strauss und stand auf. Unter der Tür murmelte er lächelnd: »Ein Teufelskerl, dieser Seidler-Winkler, ein verdammter Teufelskerl.«
Automatische Konzerte mit automatischen Maschinen
Auf der Bühne stand auf einem Tisch ein hoher Glaskasten, in dem ein Rundbogen langsam oder schnell um einen senkrechten Steg mit Saiten kreiste, auf denen metallene Klappen statt Finger die Töne griffen. Die automatische Geige spielte ein Solo, ein Bravourstück, und wurde von einem höchst lebendigen Orchester unter der Stabführung eines ebenso lebendigen Dirigenten begleitet.
Das Phonola
Dann trug ein Mechaniker den Automaten fort und stellte ein Phonola auf, ein elektrisches Klavier, das mit einer gestanzten Papierrolle betrieben wurde. Diese Papierrolle hatte irgendein berühmter Virtuose bespielt, und nun gab das Gerät seinen Anschlag naturgetreu wieder.
Die Papierrollen des Edwin Welte aus Freiburg
Durch einen Zufall entdeckte man vor wenigen Jahren die Papierrollen, auf denen der Freiburger Klavierbauer und Erfinder Edwin Welte das Klavierspiel von Grieg, Reger, Debussy und Richard Strauss festgehalten hat. Diese Schätze wurden in der Reihe »Musikalische Dokumente« durch die Teldec auf Schallplatte wieder zum Leben erweckt.
Nach einem ähnlichen Prinzip arbeitete auch das Phonola und spielte, ebenfalls vom Orchester begleitet, sein Roboter-Solo. Dieses mechanische Klavier wurde von der Firma Polyphon gebaut, die Schallplatten, Musikautomaten und für kurze Zeit sogar Automobile herstellte. (1917 erwarb sie den Aktienbesitz der Deutschen Grammophon, der als englisches Vermögen im Kriege beschlagnahmt wurde.)
Anmerkung : Weltberühmt wurden die riesigen "Welte Orgeln" oder die Welte Orchstrions aus den Jahren 1910 bis 1914.
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Der Superplattenspieler »Auxetophone«
Als das elektrische Klavier seine Piecen beendet hatte, wurde ein Superplattenspieler auf die Bühne gerollt. Dieses »Auxetophone« hatte einen mit Preßluft betriebenen Verstärker und konnte eine Lautstärke erzeugen, die riesige Säle füllte. Der Mechaniker legte eine Schallplatte auf, und Caruso schmetterte seine »Siziliana« in den Saal, so laut, wie er sie selber nie gesungen hatte.
Die automatischen Konzerte waren eine Zeitlang sehr beliebt und füllten selbst große Säle bis auf den letzten Platz. Die deutschen Höfe rissen sich um solche Konzerte im kleinen Kreise. Man wollte dem Volk zeigen, daß man mit der Zeit ging.
MosafTar od-Din, Schah von Persien
Der phono-freundlichste Fürst war jedoch MosafTar od-Din, Schah von Persien, aus dem Hause der Kadscharen. Er hatte sich auf der Pariser Weltausstellung einen Riesenphonographen besorgt, der von Batum bis Teheran auf Kamelen in seinen Harem transportiert werden mußte.
1902 wohnte MosafTar od-Din in Berlin einem Zonaphon-Konzert bei, wobei er es sich in Hemdsärmeln bequem machte, während seine Leibwächter ihre schweren Lammfellmützen aufbehielten. Ein Jahr vor seiner Abdankung stattete er als erstes gekröntes Haupt der englischen Gramophone Company einen Besuch ab. Es war übrigens das gleiche Jahr, in dem eine Anzahl berühmter Matrizen im Britischen Museum deponiert wurde.
Deutschlands Nachtigall Frieda Hempel mochte Hampe nicht
Als Frieda Hempel, Deutschlands Nachtigall, Adams Bravour-Variationen über ein Thema von Mozart (Einlage zur »Regimentstochter« von Donizetti) auf Schallplatte gesungen hatte, schrieb sie an den Direktor der Deutschen Grammophon:
»Sehr geehrter Herr Direktor! Soeben erhielt ich die von mir gesungene Aufnahme >Bravour-Variationen< und freue mich über die ganz vollendete Wiedergabe der von mir gesungenen Cadenzen. Ich finde sowohl meine Stimme als auch die Flöte so naturgetreu reproduziert, daß ich Sie zu der vollendeten Technik Ihres Aufnahmeverfahrens gern beglückwünsche. Mit bestem Gruß, Frieda Hempel.«
Ein Verdienst des Aufnahmeleiters Max Hampe
Daß diese Aufnahme so gut geglückt war, war nicht zuletzt das Verdienst des Aufnahmeleiters Max Hampe. Und eben diesen Hampe fand Frau Hempel unausstehlich. War er doch schuld daran, daß sie am linken Arm zwei blaue Flecken hatte und bei der Aufnahme beinahe hingefallen wäre. Dieser Mensch hatte sie an den Armen gepackt, am Rock oder an der Bluse gezerrt, sie manchmal fast in den Trichter hineingedrückt und dann wieder zurückgerissen, so daß sie stolperte und nur mit Mühe ihre musikalische Kontinuität bewahren konnte.
Anschließend sagte Hampe dann mit todernstem Gesicht: »Die Aufnahme muß wiederholt werden, die Stimme war nicht gleichmäßig genug.« Und wieder fing die Pufferei und Zerrerei von vorn an, ohne daß sich die Künstlerin beschweren konnte.
Einen Hinweis darauf hatte der sonst so galante Direktor energisch zurückgewiesen:
»Gnädige Frau, Hampe ist ein großartiger Techniker. Und er findet, daß Sie für die tausend Mark, die Sie pro Aufnahme bekommen, auch eine Menge leisten müssen.«
Frieda Hempel konnte ihm nicht widersprechen, denn die Aufnahmen, die Hampe machte, waren großartig. Aber trotzdem konnte sie ihn eben nun einmal nicht leiden.
Ganz Berlin ist voller Musik
Drei Schlagerkönige bestimmten das musikalische Gesicht Deutschlands und belieferten die Schallplatten mit ihren Melodien.
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- Paul Lincke, der »schöne Paul«, schrieb Operetten und Revuen für Fritzi Massary, Joseph Giampietro und Guido Thielscher, die für eine Spielzeit eine Gage von rund vierzigtausend Goldmark erhielten. Linckes »Glühwürmchen« eroberte die ganze Welt, und sogar die göttliche Pawlowa tanzte neben ihrem »Sterbenden Schwan« das »Glühwürmchen-Idyll«.
- Jean Gilbert war der Methodiker der Operette. Seine »Polnische Wirtschaft« erlebte am Thalia-Theater in Berlin über fünfhundert Aufführungen. »Dieses seltene Bühnenjubiläum«, so schrieben die Zeitungen damals, »ist der lustigen und charmanten Musik zuzuschreiben, die auch auf vielen großartigen Grammophonplatten festgehalten ist.« Und ganz Berlin sang später seinen Schlager »In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht«.
- Walter Kollo schrieb vor allem zärtliche Melodien: »Es war in Schöneberg, im Monat Mai« und Operetten, die genau den Berliner Ton trafen. Am liebsten komponierte er jedoch Kabarettmusik und war eine Zeitlang Hauskomponist des »Roland von Berlin«, einer Neugründung in der Potsdamer Straße.
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Die kleine rothaarige Claire Waldoff
»Wenn der Bräutigam mit der Braut so mang die Felder jeht«, hieß das Lied, das Kollo für eine kleine rothaarige Person schrieb. Sie wollte im Anzug eines Etonboys auftreten, aber das gestattete die Polizei nicht, da es in Berlin verboten war, daß eine Frau, sich nach elf Uhr abends in Männerkleidern in der Öffentlichkeit zeige.
Nach ihrem ersten Auftreten war ein neuer Star geboren, und ganz Berlin sprach von Claire Waldoff. Sie wurde der »weibliche Otto Reutter« genannt. Bald erschienen die ersten Waldoff-Schallplatten bei Zonophon: »Ne dufte Stadt ist mein Berlin« und »Nach meine Beene is ja janz Berlin verrückt«, deren Musik von Walter Kollo stammte. Fünfzig Jahre hielt Ciaire Waldoffs Popularität an, und über ihre Lieder »Wer schmeißt denn da mit Lehm«, »Herrmann heeßt er« und »Laß dem Kind doch die Boulette, es spielt ja bloß mit sie« lachte ganz Deutschland.
Der Coupletsänger Otto Reutter
Ihr großes Vorbild war der Coupletsänger Otto Reutter, der seine Verse selbst dichtete und sich auch die Melodien ausdachte. Wenn er auf der Bühne stand und mit halber Stimme vor sich hin sang, dann riß er selbst das verwöhnteste und versnobteste Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Man kann die Faszination und die Komik verstehen, die von diesem einfachen Manne ausgingen, wenn man sich heute seine noch immer im Handel befindlichen Schallplatten anhört.
Kurt Tucholsky schrieb über ihn: »Ein Refrain immer besser als der andere, wie muß dieses merkwürdige Gehirn arbeiten, daß es zu jeder lustigen Endzeile immer noch eine neue Situation erfindet. Und was für Situationen! Ein Refrain hieß: >In fünfzig Jahren ist alles vorbei!<.
Heiliger Fontane, hättest Du eine Freude gehabt! Die Melodie bleibt auf > vor bei < in der Terz hängen - erst das Klavier endete sie, und er stand da und machte ein dummes Gesicht. Und sah aus wie ein Kuhbauer und entzückte und charmierte durch seine Grazie. >Wenn dich der Zahnarzt <, sang er, >an einem Zahn durchs Zimmer schleift, und es will gar nimmer enden - dann mach dir nichts aus der Schweinerei, denn in fünfzig Jahren ist alles vorbei . . .<
Und dann ein Lied, meisterhaft, in total besoffenem, von nichts ahnendem Tonfall gesungen: >Ick wunder mir über jahnischt mehr -! < Abends käme er nach Hause, sang er, und da:
>Da steht vor meine Kommode 'n Mann -
Der sagt: Sie! fassen Se mal mit an!
Alleene is' mir det Ding zu schwer . . .
Ick wunder mir über jahnischt mehr - !<
Und dazu ein Mondgesicht, unbeteiligt, mildleuchtend durch die Wolken, was soll man dazu sagen ? Die Leute sagen auch gar nichts, sondern liegen unter dem Tisch, und wenn sie wieder hochkommen, dann verbeugt sich da oben ein dicker und bescheidener Mann, der gar nichts von sich hermacht, obwohl er ein so großer Künstler ist.«
Aristide Bruant singt am Metropoltheater
Am Metropoltheater gastierten auch der französische Volkssänger Aristide Bruant, mit schwarzem Schlapphut und rotem Schal, und die Diseuse Yvette Guilbert, mit rotem Haar und schwarzen Handschuhen. Sie sang: »Ich brauch' das Herz von deiner Mutter, ich brauche es als Hundefutter! Und da rennt der Kerl doch fort und begeht Muttermord!« und »Madame Arthur ist eine Dame, von der man schon seit langem spricht . . .« Obwohl die Berliner die französisch gesungenen Texte nicht verstehen konnten, waren sie begeistert. Genauso wie die Menschen, die der großen Chansonsängerin in London oder Paris zujubelten, wo immer sie auftrat: im »Eden«, im »Ambassadeur«, im »Cigale« oder im »Divan Japonais«. Dort wurde sie von Toulouse-Lautrec zum erstenmal gezeichnet, die mageren Arme in langen, schwarzen Handschuhen verborgen, schwarz, weil sie weniger schmutzten.
Pathe-Marconi produzierte Yvette Guilbert
Yvette Guilbert sang ihre liebsten Lieder und ihre größten Erfolge in die Aufnahmetrichter der Pathe-Marconi: »Le Fiacre«, »L'Hötel du Numero 3«, »Madame Arthur«.
Diese Schallplatten sind heute eine Lektion für uns, eine Aufklärung, wie man ein Chanson singen soll und muß. Und sie beweisen, warum man nicht an das Chanson denken kann, ohne an Yvette Guilbert zu denken. Es war eine unerhört fruchtbare Zeit für die Schallplatte. Die annähernd hundert verschiedenen Plattenmarken in Deutschland wurden alle gut verkauft. Ja, es gab sogar eine Anzahl Händler, die ihre eigene Marke führten und ohne große Gewissensbisse Aufnahmen anderer Firmen mit einem eigenen Etikett versahen.
Harry Waiden, Leo Fall, Willy Ostermann singen
Alles, was an leichter Musik produziert wurde, nahm man auf Platten auf. Der Operettenliebling Harry Waiden, unvergessener »Prinz von Heidelberg«, sang: »Komm, mein kleines Mäuschen!«, Leo Fall dirigierte seine »Schöne Risette« und »Die Dollarprinzessin« vor dem gierigen Aufnahmetrichter, Willy Ostermann verewigte echten Kölner Humor: »Schrumm, ald wedder en Fleeg kapott«, und der Prager Abgeordnete Klofatsch ließ seine Wahlrede in Schellack pressen und verschickte sie an alle Wahllokale.
Eine ganze Welt sang. Ihre Stimmung und Lebensauffassung bedichtete Rudolf Nelson :
»Erst kamen die Blusen und Kleider
und dann die Jupons voller Plis
und dann die Dessous und so weiter
und dann, und dann kam sie!«
Eine ganze Welt wiegte sich in Plattenseligkeit. In brandgemaltem Zierrand konnte man lesen:
»Für jeden ist, ob arm, ob reich,
Das Grammophon ein Segen.
Ist traurig wer, es wird sogleich,
Das Spiel ihm Freud' erregen.
Drum bist Du, Mensch, ein armer Wicht,
Hast Du ein Grammophon noch nicht.«
(14) ZWISCHEN FRIEDEN UND KRIEG
Um den dunklen Konferenztisch im Allerheiligsten der Lindström AG in der Großen Frankfurter Straße von Berlin saßen drei Männer zusammen.
»Ich denke nicht daran, mir durch die Zollbestimmungen das wichtige Geschäft mit Lateinamerika verderben zu lassen«, wandte sich der kahlköpfige Lindström an seinen eleganten Nachbarn zur Rechten. »Was meinen Sie dazu, Straus?«
»Fabriken bauen«, erwiderte der Mitbegründer des Konzerns lakonisch. »Wir werden für Brasilien ein Werk in Rio errichten, für Argentinien in Buenos Aires und für Chile in Santiago. Ich habe genaue Unterlagen und Untersuchungen von unserem Generalvertreter Max Glückmann da, die ich Ihnen nachher zeigen werde. Er glaubt auch, daß wir durch Aufnahmen an Ort und Stelle mit dem Nationaltanz sogar hier in Europa Geschäfte machen können.«
»Was ist denn das für ein Tanz ?«
wollte der schmalgesichtige Otto Heinemann wissen, der bisher noch nichts gesagt hatte.
Direktor Straus blätterte kurz in seinen Papieren:
»Der Tanz heißt Tango und ist drüben bis in die höchsten Gesellschaftsschichten verbreitet.«
Er heißt "TANGO"
»Mit Odeon werden wir auch den Tango populär machen«, meinte Lindström lächelnd, »aber wir müssen wichtigere Dinge vorbereiten. Wir wollen das Aktienkapital auf fünf Millionen erhöhen, wir wollen eine Fabrik in England eröffnen, damit wir diese verdammte Forderung nach dem >Made in England < erfüllen können, und wir wollen bessere Laufwerke für unsere Plattenspieler haben.«
»Dann müssen wir in die Schweiz gehen«, Heinemann zeichnete ein Kreuz auf den Block, der vor ihm lag. »Ich habe da von einer Möglichkeit in St. Croix gehört ... Das will ich einmal genauer untersuchen lassen.«
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- Anmerkung : Dort wurde später die "Firma Thorens" gegründet
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Aufgekauft : Dacapo und Favorite
»Der deutsche Markt ist ja einigermaßen beruhigt«, Direktor Straus blickte Lindström an, »durch den Kauf von Dacapo und Favorite haben wir gottlob die wildesten Preissenker ausgeschaltet. Das kann man auch schon klar an der neuen Bilanz erkennen.« Er rieb sich die Hände: »Wir können zufrieden sein, meine Herren, sehr zufrieden. Hören Sie mal her ... « Und er begann Zahlen vorzulesen, endlose Reihen von Zahlen.
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Auch ernste Musik füllt die Kassen
Hermine begleitet Caruso - von der Platte
»Nein, Franziska, ich habe keine Zeit, ich muß sofort nach Hause«, sagte hoheitsvoll die Siebzehnjährige und drückte die rote Saffianmappe, auf der in erhabenem Golddruck »MUSIK« stand, fest gegen ihre Brust.
»Warum so eilig, Hermine?« fragte die Freundin. »Oder steckt etwa Heinrich dahinter?«
»Ach, du bist dumm«, wehrte die Angegriffene ab, »ich will musizieren!«
»Du kommst doch gerade von der Klavierstunde«, staunte Franziska, »so viel Spaß macht mir das Klimpern aber nicht.«
»Aber ich werde heute abend den Hofopernsänger Karl Jörn begleiten«, trumpfte die Klavierspielerin auf. »Ich, Hermine Koppen. Und nun auf Wiedersehen!« Sie machte einen spöttischen Knicks und eilte davon.
»Oh, diese verlogene Person!« Franziska war den Tränen nahe. »Wie man nur so lügen kann ...«
Aufnahmen der Künstler ohne Begleitung
Hermine hatte aber gar nicht gelogen. Der große Bestseller kurz vor dem ersten Weltkrieg waren Schallplatten, auf denen die großen Künstler ohne Begleitung sangen. Die vollständigen Notensätze für Klavier oder Geige wurden diesen Platten beigegeben, so daß man sich nur ans Pianola zu setzen oder die Geige unter das Kinn zu klemmen brauchte, um Caruso, Karl Jörn, Emmy Destinn oder Lilly Lehmann zu begleiten. Es galt als ein Genuß, mit seinem Lieblingskünstler gemeinsam zu musizieren.
Neben Arien und Liedern wurden auch die ersten Orchesteraufnahmen für die Schallplatte aufgezeichnet.
Völlig neue Technik : Orchesteraufnahmen
Nach langem Zögern betrat der große Dirigent Arthur Nikisch einen Aufnahmeraum, um für die Deutsche Grammophon mit den Berliner Philharmonikern Beethovens »Fünfte« aufzunehmen.
Das Bild, das sich ihm bot, war von allen Konzertsälen der Welt, die er gesehen hatte, das seltsamste. Über den ganzen Raum verteilten sich kleine Plattformen von unterschiedlicher Höhe, gerade groß genug, um einen Stuhl und einen Notenständer aufzunehmen. Das Klavier, kein Flügel, stand weit hinten in der Ecke. Aus einer Wand ragten drei verschiedene Aufnahmetrichter. Die Stroh-Violinen saßen ganz nahe an dieser Wand, und der größte Trichter wandte sein dunkles Maul ihnen zu. Die Trompeter, die genau in den anderen Trichter blasen mußten, drehten dem Dirigentenpult den Rücken zu. Sie konnten aber die Anweisungen des Dirigenten in kleinen Spiegeln beobachten, die auf ihren Notenständern steckten. Der Tubabläser, der auch an einem Spiegel hantierte, saß rechts hinter den Hörnern. Er hatte das Schalloch seines mächtigen Instrumentes etwas vom Aufnahmetrichter weggedreht. Die große Trommel fehlte ganz.
Der Aufnahmeraum war tabu
Den Aufnahmeraum, das Reich des Tontechnikers, durfte niemand betreten. Ein kleines Glasfenster in der Wand gab dem Tontechniker die Möglichkeit, mit den Musikern und dem Dirigenten in Verbindung zu treten.
Arthur Nikisch schaute durch das Fenster. Er sah einen kahlen, nüchternen Raum, der von einer mächtigen Drehscheibe beherrscht wurde. Sie stand auf einem stählernen Fuß und wurde durch ein schweres Gewicht in erschütterungsfreiem Gleichlauf gehalten.
Von der Trichtermembran, in der sich die drei tonhungrigen Metallmäuler vereinigten, ragte ein dünner Tonarm bis über die Drehscheibe, auf der die erste Wachsmatrize lag. Eine Werkbank mit vielen Ersatzmembranen und ein Heiztisch, auf dem die Wachsmatrizen vorgewärmt wurden, ergänzten die Einrichtung.
Der Aufnahmeleiter der Schallplattengesellschaft komplimentierte den Dirigenten von dem Fensterchen weg:
»Herr Nikisch, entschuldigen Sie, wir können anfangen!«
Die 5. von Beethoven auf 4 Scheiben
Nikisch trat an das Dirigentenpult. Er hob den Taktstock, und das Thema des ersten Satzes klang auf.
Diese Aufnahme, in vier Schallplatten geschnitten und in einem Album für achtundvierzig Mark verkauft, machte Sensation. Arthur Nikisch hatte die Schallplatte für die symphonische Musik endgültig erschlossen, wenn auch schon vorher einige andere Aufnahmen gemacht worden waren.
Edison bleibt der Walze treu - hat aber neue Ideen
der Ton zum Film auf der Walze
Im großen Saal des großherzoglichen Schlosses zu Karlsruhe drängten sich auf allerhöchsten Befehl geladene Gäste. Sie nahmen auf den vergoldeten Sesseln Platz, die in Reih und Glied vor einer weißen Leinwand standen.
»Muß ja eine tolle Chose sein, wenn Seine Königliche Hoheit sozusagen zum Rapport befehlen«, flüsterte ein ordengeschmückter Oberst seiner Nachbarin zu.
»Ein sprechendes lebendes Bild, wie ich gehört habe«, lächelte die Dame zurück. »Ich bin sehr gespannt.«
»Was dieser Edison anpackt, das hat Hand und Fuß. Ein begabter Mann, ein Genie, wenn man so sagen darf«, ereiferte sich ein hoher Ministerialbeamter.
»Seine Königliche Hoheit, der Großherzog, und Ihre Königliche Hoheit, die Großherzogin«, rief der Hofmarschall mit Stentorstimme, und alsbald verlosch das Licht.
Es war dunkel und auf der Leinwand erschien . . . . .
Auf der Leinwand erschien nun ein befrackter Conferencier in einem prächtigen Salon und erläuterte:
- »Seit Jahren hat Thomas Alva Edison sich mit dem Problem befaßt, Kinematograph mit dem Phonographen zu verbinden. Im Kinetophon sehen Sie die Früchte seiner Bemühungen. Mittels dieses Apparates werden Bild und Schall gleichzeitig und der Wirklichkeit entsprechend wiedergegeben. Edisons Kinetophon fängt beides, Bild und Schall, in sich auf, und zwar in einer Entfernung von zwölf Metern. Was also auf der Bühne oder auf einem beliebigen anderen Schauplatz in dieser Entfernung gesungen, geredet, gespielt oder getrieben wird, kann durch den Apparat festgehalten werden.«
Der Conferencier auf der Leinwand nahm von einem zierlichen Tischchen eine Trompete und blies. Er trat zur Seite und machte einer Sängerin Platz, die das Lied »Letzte Rose« sang. Das Bild wechselte: Hunde umbellten fröhlich ihren Herrn. Ein junges Paar traf sich unter Bäumen, die Eltern erschienen, und das glückliche Paar gab sich, von den Eltern gesegnet, den ersten Kuß.
»Sogar den Kuß konnte man beinahe hören«, lachte der Oberst und klatschte, daß sich seine Hände röteten.
Der Hofmarschall beobachtete die Mienen der Königlichen Hoheiten, und als er sah, daß Ihre Königliche Hoheit freundlich klatschte, wußte er, daß er Zeuge einer bedeutsamen Erfindung gewesen war. Beinahe schon Tonfilm ...
Man schrieb den 16. Januar 1914.
August 1914 - der Krieg war ausgebrochen
Am 4. August des gleichen Jahres drängte sich eine lärmende Menschenmenge durch die Straßen von Paris.
»A bas les boches! Nieder mit den Deutschen!« Die schwache Polizeikette wurde durchbrochen, und die ersten Steine flogen in die Fenster der Odeon-Fabrik. Das Wahrzeichen der Firma, der schlanke Musentempel, wurde von der Mauer gerissen und unter trampelnden Füßen zerstampft. Die Kristallglasscheiben der Türen zersplitterten, und bald darauf flogen die ersten Plattenstapel aus den Fenstern auf das Pflaster.
Die Wachsmatrizen wurden der Brandherd, der die ganze Fabrik bis auf die Grundmauern zerstörte. Der Krieg hatte begonnen.
Merkwürdige Kuriositäten im Krieg
Überall produzierte man Marschmusik, und es dauerte nicht lange, da produzierte man an den gleichen Stätten Munition.
Zeitgenössische Karikaturen zeigten Tommies mit Maschinengewehren, die statt der Munitionstrommel eine Schallplatte tragen und Noten schießen.
Die Stahlnadeln wurden für die Plattenspieler der Armee, des Heeres, der Army oder wie das Militär sonst noch genannt wurde, beschlagnahmt, und Captain Edward Symons konnte einen Leitartikel schreiben: »Das Grammophon bannte die Schrecken des Krieges.« Der Krieg hat in einer Geschichte der Schallplatte keinen Platz.