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(20) SINGENDES KLINGENDES AMERIKA

Mitten im zweiten Weltkrieg strengten die amerikanischen Musikergewerkschaften einen zwar unblutigen, aber doch sehr erfolgreichen Feldzug gegen die Schallplattenindustrie ihres Landes an.

Mister Petrillo, Boss über Millionen zartbesaiteter Musikerseelen, bewies damals, daß er Nerven wie Stricke hatte. Er schaffte es, daß sich seine Musiker vom 1. August 1942 an nicht mehr für Schallplattenaufnahmen verdingten. Zwei Jahre lang hielt er diesen »Streik mit Pauken und Trompeten« durch. Im November 1944 wurden die Schallplattenfirmen weich und gingen auf Petrillos Forderungen ein.

Die »Großen Drei«, RCA-Victor, Columbia und Decca

Die »Großen Drei«, die damals den amerikanischen Plattenmarkt beherrschten, waren die Firmen RCA, Columbia und Decca. Doch es lag keinesfalls nur an ihrem mangelnden Stehvermögen oder an Petrillos Drahtseilnerven, daß der Streik mit einem Sieg der Musikergewerkschaften endete.

Die Capitol Records Inc. kommt ins Spiel

Eine bedeutende Rolle in dieser Auseinandersetzung spielte auch eine kleine Firma, die im April 1942 in Hollywood gegründet worden war. Drei entschlossene Männer hatten sich zusammen- getan, um ins Konzert der musikalischen Großmächte einzusteigen:

Der erste war Glenn Wallichs, Inhaber eines kleinen Radio-Reparaturgeschäftes in der Vine Street, ein zielbewußter und cleverer Mann, der schon mit dreizehn Jahren den kleinsten Radioempfänger der Welt zusammengebastelt hatte, einen Empfänger, der in einen Fingerhut paßte. Der zweite war Johnny Mercer, einer der bekanntesten amerikanischen Schlagerautoren (»Jeepers, Creepers«, »Goody - goody«), ein Stammkunde bei Wallichs. Und der dritte war schließlich Mister De Silva, ein finanzkräftiger Bühnen-und Film-Producer.

Die »Capitol« siegt in Hollywood

Diese drei Männer wollten eine Schallplattenfirma gründen, die nach völlig neuen Methoden arbeiten sollte. Und sie hielten sich auch gar nicht lange mit Plänen auf, sondern legten gleich los! Sie investierten zehntausend Dollars und firmierten zunächst unter der Marke Liberty. Bald darauf gaben sie ihrem jungen Unternehmen einen neuen Namen: Capitol Records Inc.

»Höchstens ein halbes Jahr«

Die »drei Großen« gaben diesem neuen Hollywooder Trio keine Chancen. »Höchstens ein halbes Jahr«, sagten sie. - Wallichs, Mercer und De Silva aber ließen sich nicht irre machen. Ein Aufstieg ohnegleichen begann. Es wurde technisch, kaufmännisch und künstlerisch aufgerüstet. Weil sie rechtzeitig von Petrillos Streikplan Wind gekriegt hatten, nahmen sie im Eiltempo eine ganze Jahresproduktion im voraus auf. Sie produzierten etwa dreihundert verschiedene Titel und legten sie auf Eis, damit sie etwas Aktuelles zu verkaufen hatten, während die Konkurrenz wegen des Musikerstreiks nur auf ihre alten Kataloge angewiesen war.
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Ein Käufersturm brach los

Die Rechnung ging auf. Schon die ersten Capitol-Platten lockten einen Käufersturm hervor. Die Aufnahmen »Cow-Cow-Boogie« mit Ella Mae Morse und die »Strip-Polka«, die Autor und Gesellschafter Johnny Mercer selber sang, wurden im Handumdrehen zu Bestsellern.

Die Capitol-Leute gingen sofort daran, ihre Künstlerliste zu vergrößern. Für die Abteilung »Sinfonische Unterhaltungsmusik« engagierten sie den bereits vor zehn Jahren abgesetzten »Jazzkönig« Paul Whiteman. Sie schlossen langfristige Exklusivverträge mit Künstlern wie Jo Stafford, Margaret Whiting oder Marta Tilton.

Sie verschickten Tausende von Gratisplatten an die Programmgestalter der zahlreichen amerikanischen Rundfunkgesellschaften; außerdem versorgten sie die Discjockeys der Sender mit genauen Informationen über ihre Künstler. Mit dieser geschickten Werbung erreichten sie es, daß Amerikas Bevölkerung sich über Nacht einer konzentrischen Musikberieselung durch diese neue Hollywoodfirma ausgesetzt sah. Natürlich stieg sofort die Nachfrage nach Capitol-Platten in den Läden.

Plötzlich gab es die »Großen Vier«!

Das Jahr 1942 wurde mit einem Umsatz von hundertfünfundneunzigtausend- neunhundert- dreizehn Dollars abgeschlossen. Zwei Jahre später konnte Capitol bereits einen Umsatz von zweieinhalb Millionen buchen. Und bald darauf waren aus den »Großen Drei« des amerikanischen Schallplattenmarktes die »Großen Vier« geworden.

Alphabetische Reihenfolge:

  • Capitol,
  • Columbia,
  • Decca,
  • RCA-Victor.


Capitols Repertoire-Anstrengungen gingen indessen weiter. Künstler wie Nat King Cole, June Christy, Ray Anthony, Dean Martin, Ernie Ford, Peggy Lee, Nelson Riddle, Stan Kenton und später auch Frank Sinatra wurden in die Firmenfamilie aufgenommen. Auch die großen Namen aus dem Angel-Katalog werden heute von Capitol betreut. Hinzu kommen eigene Produktionen auf klassischem Gebiet: Hollywood-Bowl-Orchester, Nathan Milstein, Leonard Pennario oder Leopold Stokowski.
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Jetzt wurde gepresst, was das Zeug hielt

Das atemberaubende Tempo dieses Firmenaufstiegs machte es möglich, daß Glenn Wallichs sich bald die größte amerikanische Plattenpresserei (Scranton/Pennsylvania) zulegte. Als auch diese Monsterfabrik zu klein erschien, erwarb er eine weitere Presserei in Los Angeles.

Capitol ging in der Senderbearbeitung so weit, daß es für die Rundfunkgesellschaften fertige Programme produzierte. Außerdem wurden der Schallplattenfirma zwei Musikverlage angehängt. Mit Fleiß versorgte Capitol die vierhunderttausend Juke-Boxen in den USA, die heute pro Jahr etwa fünfzig Millionen Platten verbrauchen. Eine glänzend gesteuerte Produktion von Kinderschallplatten brachte Jahresumsätze, die hoch in die Millionen gingen.

Der »Schallplattenstapel« in Hollywood - das Capitol Haus

Johnny Mercer hatte sich schon 1947 ins Privatleben zurückgezogen. De Silva starb 1950. Heute ist Glenn Wallichs der Präsident des Riesenunternehmens Capitol. Als ein Mann, der um neue zündende Ideen niemals verlegen ist, residiert er seit April 1956 im ultra-modernen Capitol-Turm, Ecke Hollywood Boulevard und Vine Street, der als das Wahrzeichen der weltberühmten Filmstadt gilt. Dieses erste kreisrunde Bürohaus der Welt sieht wie ein überdimensionaler fünfzig Meter hoher Schallplattenstapel aus.

Oberhalb der dreizehn Stockwerke befindet sich ein zweiundzwanzig Meter hoher Mast, der im purpurroten Morse-Code das Wort »Hollywood« in die californischen Nächte strahlt. Sieben Meter unter der Erde liegen die Hallräume, von denen aus der bei Schlagerproduktionen so notwendige »Hall« über Draht in die Aufnahmestudios eingeblendet wird.

Die Herstellung des Capitol-Turms kostete zwei Millionen Dollar. Dieses Geld aber hatten allein schon Les Paul und Mary Ford mit ihren sechs Millionen verkauften Schallplatten in einem Jahr hereingebracht.

1956 - Capitol jetzt im EMI Verbund

Im Frühjahr 1956 wurde Capitol Mitglied des weltumspannenden EMI-Konzerns. Gleichzeitig kündigte die RCA ihren seit Jahrzehnten bestehenden Vertrag mit der EMI auf. Die Capitol entwickelte sich in ihrem neuen Verband rapide weiter. 1958 konnte sie einen Jahresumsatz von vierundvierzig Millionen Dollars melden.

Als im April 1959 die amerikanische Schallplattenakademie (NARAS) in einem Festakt im Beverly-Hilton-Hotel vor sechshundert Prominenten ihre Wertungsresultate bekanntgab, holte sich Capitol mit zehn Preisen den Löwenanteil. Es folgten RCA mit vier, Decca und Liberty mit je drei, Verve und Roulette mit je zwei und Challenge, Dot, MGM und London mit je einem Preis.

Mercury - noch ein Newcomer

»Firmen sind keine Telefone, Schreibmaschinen und Aktendeckel. Firmen sind Menschen. Und die Mercury Record Corporation bildet keine Ausnahme.«

Mit diesen Worten beginnt die offizielle »Mercury-Story«, die Geschichte jener Schallplattengesellschaft, die unter den »Großen Fünf« der amerikanischen Phono-Industrie die einzige ist, die erst nach dem zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Innerhalb von zehn Jahren kämpfte sich die Mercury bis in die US-Spitzengruppe empor. Ihr Hauptquartier ist in einem grauen Wolkenkratzer am East Wacker Drive in Chikago untergebracht. Von hier aus warf die Mercury ihre Netze in alle Himmelsrichtungen aus, besonders aber über Europa, Südamerika und den Fernen Osten.

Die Mercury schreibt das Wort »Team-Arbeit« groß. In ihrem Gehirntrust befinden sich zahlreiche junge Leute und auch auffallend viele Frauen. Die Lizenzabteilung (»Royalty«) wird fast ausschließlich von Frauen befehligt; hier wird liebevoll und unbeirrt nach einem genauen »Strickmuster« gearbeitet.

Die Mercury wurde im Jahre 1947 gegründet

Präsident Irving B. Green gehört zu den Männern, die die Mercury im Jahre 1947 gründeten. Gleichzeitig ist er der Präsident des Verbandes der amerikanischen Schallplattenfirmen.

Der Mercury-Katalog weist hochinteressante Künstlernamen auf: die Dirigenten Antal Dorati und Rafael Kubelik, den Fernsehstar Patti Page, die Platters, die schwarzen Sängerinnen Sarah Vaughan und Dinah Washington, den seit langem berühmten Billy Eckstine, den Jazz-Saxophonisten Gerry Mulligan und viele andere mehr.

Mit einem geschickten Verkaufssystem (»Operation Pageworth«) und betont interessanten Plattenhüllen setzte sich Mercury auf dem Schallplattenmarkt durch und hält und steigert seinen Standard.

Fast drei Jahre lang war eine ganz gewisse klassische Langspielplatte aus dem Mercury-Katalog sensationeller Bestseller in den USA: Tschaikowskys Ouvertüre »1812«.

Die Bronze-Kanone aus Douay war die Attraktion

Man begreift die brisante Wirkung dieser Edition, wenn man die auf der Plattenhülle angezeigte Besetzung liest:

Sinfonie-Orchester von Minneapolis unter Antal Dorati

Eine Blechkapelle der Universität Minnesota

Eine Bronze-Kanone aus Douay, Frankreich (1775). (Mit freundlicher Genehmigung der Militär-Akademie West-Point)
Glocken der Laura - Spelman - Rockefeiler - Gedächtnis - Stiftung, Riverside-Kirche

Kommentare: Deems Taylor

Die bombastische Wirkung dieses akustischen Spektakulums wurde ins »Noch-nie-Dagewesene« gesteigert, als Mercury im Frühjahr 1959 diese Aufnahme in Stereo wiederholte.

Auf dem Album-Cover sind weder Tschaikowsky noch Dorati abgebildet - nein, eine Kanone ziert die Plattenhülle, old-fashioned und vielversprechend !

Symbole konnte man gut verkaufen

Das mag als Symbol gelten: Mercury und die EmArcy-Jazz-Serie feuern schwere und unüberhörbare Salven auf den internationalen Schallplattenmarkt. Das war wohl nötig, damit eine junge und ambitiöse Schallplattenfirma sich in so kurzer Zeit durchsetzen konnte.

Am 15. Februar 1959 übernahm die Electrola den Vertrieb des Mercury-Repertoires und wurde damit zur Firma, die das wohl interessanteste und umfangreichste internationale Repertoire in Deutschland anbietet.

Film- und Musikstadt Hollywood

Seit Anfang der vierziger Jahre der Film »Laura« herauskam, hat man dem »Musikproduzenten« Hollywood immer größere Bedeutung zugemessen. Das Filmlied »Laura« wurde nämlich ein Evergreen-Schlager.

Ähnlich ging es später den Filmmusiken aus »Drei Münzen im Brunnen«, »Alle Herrlichkeit auf Erden«? »Liebe im April«, »In 80 Tagen um die Welt« und vielen anderen mehr. Heute sind alle großen Filmgesellschaften Hollywoods mit eigenen Schallplattengesellschaften gekoppelt.

Und es geht um richtig viel Geld

Das amerikanische Entertainment rückt immer enger zusammen. Für alle Sparten seiner »Unterhaltungsindustrie« gibt der Amerikaner heute im Jahr etwa vier Milliarden Dollars aus.

So verteilen sich die einzelnen Posten:

  1. Film 1,2 Milliarden
  2. Fernsehen 900 Millionen
  3. Radio 700 Millionen
  4. Schallplatte 500 Millionen
  5. Zirkus, Karneval, Nightclubs 500 Millionen
  6. Shows und Musicals 70 Millionen
  7. Theater, Oper, Konzert 50 Millionen

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Elvis Presley seit 1956 bei RCA

Ein Viertel jener fünfhundert Millionen Dollars, die Amerika jährlich für Schallplatten ausgibt, frißt der Rock'n' Roll, die Musik der Jugend. Die »Lokomotive« dieses heißen Musikstils war ein Junge namens Elvis Presley, ein ehemaliger Truckfahrer aus Tennessee.

1956 hatte die RCA ihn für fünfunddreißigtausend Dollars von der kleinen Schallplattengesellschaft Sun Records losgekauft. Presley wurde bald darauf das größte Geschäft, das jemals in der Geschichte der Schallplatte mit einem einzigen Sänger gemacht wurde.

Es gab eine Periode, in der zwei Drittel der gesamten RCA-Produktion allein für die Herstellung von Presley-Platten festlagen. Innerhalb von drei Jahren ersang sich der hochmusikalische Hüftschwinger Presley zwanzig Goldene Schallplatten. Sein Gesamtumsatz entspricht der Stückzahl, die die gesamte Schallplattenindustrie der Bundesrepublik Deutschland in einem Jahr verkauft.

Kalte Geschäfte mit heißer Musik

Dreitausendfünfhundert berufsmäßige Discjockeys sorgen in Amerika dafür, daß der Rock'n' Roll nicht ausstirbt. Da jeder heute in Amerika Schallplatten besingen und pressen lassen kann (fünftausend Stück kosten tausendzweihundert Dollars), haben sich inzwischen tausendfünfhundert kleine Schallplatten-»Firmen« aufgetan, die auf den Rock'n'Roll setzen und das Big-Business erwarten.

Rock'n' Roll-Sänger brauchen nämlich keine Stars im üblichen Sinne zu sein. Wenn sie nur über den nötigen »Big Sound« und »Big Beat« verfügen, haben sie schon Chancen. Auf einen großen Namen und auf ein besonders ausgebildetes musikalisches Talent können sie gut und gern verzichten. »Newcomers« machen seit Jahren das kalte Geschäft mit der heißen Musik.

Millionär mit 400.000 Platten

Auf diese Weise wurde der Rock'n' Roll nicht nur zum »Volkssport«, sondern auch zur kommerziellen Spekulation. Wer fünftausend Platten (bei einer Investierung von tausendzweihundlert Dollars) verkauft, kann damit etwa dreitausend Dollars netto verdienen. Wer vierhunderttausend Platten verkauft (das ist in der Sparte Rock'n' Roll gar nicht einmal so ungewöhnlich), hat eine Million Deutsche Mark gemacht!

Merke: Es ist oft günstiger, eine Schallplatte laufen zu haben als ein Rennpferd!
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(21) SIE DREHT SICH WEITER!

1945 - Der Schallplattenhändler auf Berlins Kurfürstendamm hob instinktiv die Arme hoch. Amerikanische Soldaten standen in seinem Laden. Sie hatten Maschinenpistolen quer vor der Brust hängen und schauten ihn herausfordernd an.
Die bedingungslose Kapitulation gab ihnen in jenen Tagen jedes Recht zur Beschlagnahme. Sie brauchten nur zu sagen, was sie haben wollten.

Ein ganz besonderer Wunsch

Endlich machte der Sergeant den Mund auf:
»Lili Marien!« stieß er hervor. »Where is that record?!«
Der Plattenhändler atmete auf: Wenn's weiter nichts ist ...! Doch dann fuhr ihm plötzlich ein neuer Schreck in die Glieder.
»Die Lili-Marien-Platten sind schon von den Russen beschlagnahmt«, sagte er.
»Damned!« Aber die Amis ließen nicht locker. Sie boten hundert Mark, sie boten zweihundert Mark. Sie deuteten auf ihre Maschinenpistolen und schoben sich unternehmungslustig den Stahlhelm in den Nacken.
»Leider nichts zu machen«, stammelte der Plattenhändler. »Lili Marien haben wir nicht mehr da und kriegen wir voraussichtlich auch nicht wieder 'rein.«

Sie wollten nur "eine" Siegestrophäe

Da begannen die Amis auf eigene Faust zu suchen. Sie forderten den Händler auf, ihnen das Zentrallager zu zeigen. Dann zückten sie ihre Stabtaschenlampen und suchten in dunklen Kellern in den Schellackscherben herum. Und nach einer Stunde fanden sie tatsächlich - Glory hallelujah! - noch eine Platte mit Lale Andersens Lili-Marlen-Lied. Stolz und glücklich zogen sie mit der Siegestrophäe von dannen.

Nachdenklich schaute der Plattenhändler ihnen nach. Jetzt hatte er auch das letzte Kapitel dieser denkwürdigen Schallplatte erlebt...

Die denkwürdige Geschichte der »Lili Marien«

Das Lied von der Soldatenbraut »Lili Marien« (Hans Leip/Norbert Schultze) war bereits Anfang 1939 von der Electrola produziert worden. Zwei Jahre lang hatte die Platte wie Blei gelegen; sie schien unverkäuflich zu sein.

Dann aber kam eines Tages ein Offizier vom Soldatensender Belgrad in den Laden in der Leipziger Straße, um zweihundert verschiedene Schallplatten für die Truppenbetreuung zu kaufen. »Legen Sie auch bitte etwas ganz Ausgefallenes dabei«, sagte er.
Na großartig! Der Händler legte ihm auf seine zweihundert einschlägigen Platten auch noch den Ladenhüter »Lili Marien«.

Und kurz darauf war dieses Lied zum »Abendgebet« für alle Soldaten diesseits und jenseits der Fronten geworden, zur »internationalen Minute der Besinnung«.

Kein Wunder also, daß unmittelbar nach der Kapitulation von 1945 sowohl die Russen als auch die Amerikaner diese denkwürdige Schallplatte eigenhändig zu »erobern« trachteten.

Fast alles zerstört, nur Hannover nicht

Ein neuer Anfang war zunächst nicht abzusehen. Fast alle Produktionsstätten lagen zerstört. Allein die Deutsche Grammophon fand ihr Werk in Hannover - die älteste Schallplattenfabrik Europas - noch im wesentlichen unzerstört vor. 1948 hatte sie schon wieder zweihundertzwanzig Beschäftigte. Mit Fleiß und Talent wurde hier die Arbeit wiederaufgenommen. Diese Arbeit in Hannover gab den eigentlichen Impuls für die Aufwärtsentwicklung der deutschen Phonoindustrie in der Nachkriegszeit.

Wieder ein neuer Siegeszug
»Wir sind die Eingeborenen . . .«

Die Deutsche Grammophon schaffte es, daß sich die Zahl ihrer Mitarbeiter in zehn Jahren verzehnfachte. Besonders ihr Rot-Etikett Polydor verbreitete sich in einem wahren Siegeszug über die Deutsche Bundesrepublik.

Mit ihren Marken DGG, Polydor, Archiv, Brunswick und Coral erreicht diese rein deutsche Gesellschaft bis heute hin immer wieder höchste Verkaufserfolge.

Einer der Schlager, die auf Polydor erklangen, hieß: »Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien«. Dieses muntere Marschlied erwarb sich damals fast die Bedeutung einer neuen Nationalhymne.

Auf DGG folgte sogleich Teldec

Die Teldec (Telefunken-Decca) folgte der Deutschen Grammophon auf dem Fuße. Mit einem gewaltigen und großzügig geplanten Pensum Arbeit beteiligte sie sich am Aufschwung der deutschen Phonoindustrie in den Nachkriegsjahren.

Der Teldec-Katalog (von »A bayerische Tracht« bis »Zwölftonmusik«) ist heute der umfangreichste Schallplattenkatalog des europäischen Festlandes. Die darin aufgeführten dreitausendfünfhundert Platten der Marken Telefunken, Decca, RCA und London (dabei achtzig vollständige Opern!) enthalten etwa achtundfünfzig- tausend Spielminuten. Beim pausenlosen Abhören wären fünfzig Tage und Nächte vonnöten, ferner zwölf Saphire oder zwei Diamanten.
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1950 - die holländische »Glühlampen«-Firma steigt ein

1950 kam eine neue Marke auf den Schallplattenmarkt: Philips. Diese berühmte holländische »Glühlampen«-Firma war bereits im Jahre 1891 von dem Bankier und Kaffeeröster Frederik Philips aus Zältbommel gegründet worden. Dr. Anton Philips, sein jüngster Sohn, lernte in London das Bankfach. Vater Frederik rief ihn zurück - »sonst verkaufe ich die Firma, lieber Anton!«
»Ich mache es aber nur ein halbes Jahr, lieber Vater«, antwortete Anton. Doch dann baute er zäh und systematisch jenen Glühlampen-Weltkonzern auf, in dem heute hundertvierundziebzigtausend Leute in drei- bis vierhundert verschiedenen Artikelgruppen arbeiten - von der elektrischen Tannenbaumkerze bis zum Eine-Million-Dollar-Zyklotron.

»Lebende Rohstoffe«

Lange hatte sich Dr. Anton Philips gegen die Aufnahme des Artikels »Schallplatte« gewehrt. Als Techniker und Bankier war ihm der Umgang mit »lebenden Rohstoffen«, also mit Künstlern, nicht geheuer. Als 1948 jedoch die Fernsehlawine zu rollen begann, kam bei dem Glühlampenchef die Erleuchtung: er sah ein neues Zeitalter anbrechen. »Jetzt dürfen wir uns nicht mehr wehren«, sagte er. »Jetzt können wir auch alles neu machen. Die Stunde ist da.«

Philips Musik - mit Sitz in Baarn/Holland

Und er gründete innerhalb seines Konzerns die Hauptindustriegruppe »Musik«. Seit 1950 ist diese, die Philips Phonographische Industrie mit Sitz in Baarn/Holland, ein wesentlicher Faktor auf dem internationalen Schallplattenmarkt. Die holländische Decca gehörte bereits mit zum Konzern. Die französische Polydor, die nach dem Kriege gekauft worden war, wurde an Siemens zurückgegeben, die Marken Fontana und Durium kamen neu hinzu. Der eigentliche große Partner für das Europageschäft aber wurde die amerikanische Columbia.

Zehn verschiedene Fabriken stellen heute Schallplatten für Philips her. Im Rahmen der »Föderativen Demokratie«, die das Ordnungsgesetz dieses weltumspannenden Konzerns ist, wurde die Produktion der Leichten Muse dezentralisiert. Die verschiedenen Länder nehmen ihr eigenes Pop-Repertoire auf. Die Klassik-Produktion aber wird auch heute noch von Baarn aus zentral gelenkt.

1952 - die Electrola zog nach Köln-Braunsfeld

Die Electrola produzierte bis 1952 noch unter Trümmern in Berlin. Dann zog sie auf ein ausbaufähiges Gelände nach Köln-Braunsfeld um. Von diesem Zeitpunkt an entwickelten sich ihre Gesamtumsätze in wahren Heuschreckensprüngen von Jahr zu Jahr. Folgende Prozentsteigerungen sprechen für die Dynamik der Electrola-Lindström-Gruppe (Geschäftsjahr 1952/53 = 100 Prozent) :
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  • 1953/54 234 Prozent
  • 1954/55 432 Prozent
  • 1955/56 646 Prozent
  • 1956/57 827 Prozent
  • 1957/58 1.348 Prozent

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Der Electrola-Direktor und die »lebenden Rohstoffen«

Im Gegensatz zu Dr. Anton Philips scheute Electrola-Direktor Dr. Laci Veder keinesfalls den Umgang mit »lebenden Rohstoffen«. Dabei wurde er allerdings bisweilen in eine Rolle gedrängt, die der Weimarer Theaterintendant J. W. von Goethe mit dem Stoßseufzer vom »Hochmeister der Affen« gekennzeichnet hatte.

Rosita Serrano - ein alter Electrola Star

Einer von Veders »lebenden Rohstoffen« hieß Maria Esther Aldunate del Campo. Künstlername: Rosita Serrano.

Die temperamentvolle Sängerin aus dem heißen Chile war vor dem Kriege ein Spitzenstar der Electrola gewesen. Die Lieder, die sie sang, waren Bestseller geworden, und das trillernde »Liebesvogel«-Organ der Serrano hatte sich breiteste Popularität errungen. Das Come-back der Serrano aber ging im Herbst 1953 leider daneben.

Die Kapricen der chilenischen Nachtigall raubten den bundesdeutschen Musikunternehmern die letzten Nerven. Rosita wurde zum »Kinderschreck« für Direktoren und Agenten, Manager und Musikanten. Ihre privaten Auftritte, so stand es in den Zeitungen, streiften den Bezirk des Skandalösen.

Wenn die Felle wegschwimmen

Erst im Berliner Sportpalast merkte Rosita selber, wie ihr die Felle wegschwammen. Mit einem wüsten Pfeifkonzert wollte das Publikum sie von der Bühne blasen. Rosita aber blieb standfest. Verbissen rang sie mit ihren Zuhörern, indem sie immer neue Zugaben sang. Sie dehnte das Konzert bis weit in die Nacht aus. Als Konzertagent Hoffmeister die Lampen löschen ließ, sang sie immer noch.

Den Vertrag als beendet betrachten

Kurze Zeit später schrieb Dr. Veder folgenden Brief an die Sängerin: ». . . Ihre Deutschland-Tournee war zu unserem Bedauern mit vielen unerfreulichen Begleiterscheinungen verbunden, die in keiner Weise zu Ihrer Popularität beigetragen haben. Außerdem haben Sie sich wiederholt mit verschiedenen Personen - so zum Beispiel bei einer für Sie veranstalteten Autogrammstunde vor etwa fünfzig bis sechzig Versammelten - öffentlich so abwegig über die Firma Electrola geäußert, daß wir diese Äußerungen als geschäftsschädigend ansehen müssen. Unter diesen Umständen bitten wir Sie, den zwischen Ihnen und uns am 1. Oktober 1951 für drei Jahre geschlossenen Vertrag bereits als beendet zu betrachten . . .« Dieser leicht unterkühlte Brandbrief löste bei Rosita unter anderem die Drohung aus, daß sie den Direktor ohrfeigen werde, sobald er ihr noch einmal begegne.

Doch keine Ohrfeige in Monte Carlo

Die Begegnung kam im Juli 1954 in Monte Carlo zustande. Veder war von Andre Borocz, dem künstlerischen Leiter der Mentoner Festspiele, in den »Sea-Club« eingeladen worden. Erst als er bereits im weißen Smoking die palmenbesäumte Terrasse betreten hatte, bemerkte er, welche Künstlernamen auf der Darbietungsliste standen: das englische Orchester Geraldo, die »Original Cuban Boys« und - Rosita Serrano!

Veder straffte sich. Unter den Gästen des »Sea-Clubs« befanden sich an jenem Abend auch die Exkönige Faruk und Umberto, Grace Kelly, Otto von Habsburg nebst Familie und Brigitte Bardot, die damals noch am Anfang ihrer Karriere stand. In Erwartung der Ohrfeige begab sich der Schallplattendirektor in die prominente Menschen Versammlung, so aufrecht wie weiland Arnold Winkelried in die Schlacht von Sempach. Andre Borocz führte ihn just an den Tisch, an dem die Serrano mit ihrem ägyptischen Mann saß. Man verbeugte sich voreinander, und Veders braungebrannte Wange war nun dem Temperament der Serrano schutzlos preisgegeben.

Doch es kam alles ganz anders: in Rositas kohleschwarzen Augen schien plötzlich die Sonne aufzugehen. Sie breitete entzückt die Arme aus, seufzte »Mon eher« und - küßte die Wange, die sie eigentlich hatte schlagen wollen!

Wie man sieht, sind die »Rohstoffe«, mit denen ein Schallplattendirektor umzugehen hat, von unberechenbarer Konsistenz.

Lob für die Electrola und die Carl-Lindström- Gesellschaft

Mister J. F. Lockwood, der Präsident der EMI, stellte im Mai 1959 bei einem Besuch in Köln fest: »Die Electrola und die Carl-Lindström- Gesellschaft waren vor dem Kriege führend - nicht nur in Deutschland, sondern auf dem ganzen Kontinent. Nach ihrer Reorganisation in Köln gehören sie wieder zu den führenden Schallplattengesellschaften in Europa. Sie verfügen mit ihren vierzehn deutschen Geschäftsstellen über die einzige reine Schallplatten-Vertriebsorganisation in der Bundesrepublik. Die neue Fabrik in Köln ist eine der modernsten der Welt.«

Die EMI macht Nahezu fünfzig Prozent des Schallplattenumsatzes in der Welt

X. F. Lockwood gab bei dieser Gelegenheit noch weitere interessante Aspekte zur aktuellen Position der Schallplatte in der Welt. Er sagte: »Nahezu fünfzig Prozent des Schallplattenumsatzes in der Welt wird von EMI-Gesellschaften getätigt. Da das Schallplattengeschäft sich fast in allen Ländern in den letzten Jahren günstig entwickelt hat, bekommen wir ständig mehr und mehr Konkurrenz. Wir sind aber sicher, daß unsere bis in die Gründungszeit der Schallplatte zurückreichenden Erfahrungen und unsere weltweiten Verbindungen unsere Position als die größte Schallplattengesellschaft der Welt weiterhin erhalten werden.«

Das ist praktischer Kulturaustausch

Seine Worte über die Internationalität des EMI-Konzerns ließen besonders aufhorchen: »Unser Hauptvorteil liegt in unserem einzigartigen weltweiten Netz von Tochtergesellschaften und Zweigstellen. Das bedeutet, daß wir Musikaufnahmen unter allen Ländern der Welt austauschen und das größte Repertoire auf allen Gebieten der Musik bieten können. Der von allen Ländern immer erwähnte und gewünschte Kulturaustausch ist durch die EMI-Gesellschaften auf dem Gebiet der Musik bereits lebendige Wirklichkeit.«

1958 - die Ariola ensteht

Auf der Basis des Bertelsmann-Schallplattenringes entstand 1958 die Schallplatten-GmbH Ariola mit dem Hauptquartier Gütersloh. Sie vertreibt die Marken »Classique«, »Athena« und »Manhattan«.

Die Firmen Ariola (Gütersloh), Deutsche Grammophon (Hamburg), Deutsche Philips (Hamburg), Electrola (Köln) und Teldec (Hamburg) sind in der Fachabteilung Phono im ZVEI (Zentralverband der Elektrotechnischen Industrie) zusammengeschlossen. Damit ist die Gruppe der »Großen Fünf« umrissen, die den größten Teil des deutschen Schallplattenmarktes bestreitet.

Eine Platte pro Kopf der Bevölkerung

1953 wurden in der Bundesrepublik siebzehn Millionen Schallplatten umgesetzt. Danach aber stiegen die Umsatzzahlen von Jahr zu Jahr gewaltig an. Die Spielminute wurde durch die Einführung von Platten mit längerer Spieldauer immer billiger. Die Langspielplatte erwies sich als einer der Industrieartikel der deutschen Nachkriegszeit, die immer wieder mit Preisermäßigungen überraschten.

1958 wurden in Deutschland insgesamt achtundfünfzig Millionen Schallplatten verkauft; das bedeutet: eine Schallplatte pro Kopf der Bevölkerung (in Amerika und England kommen zwei Platten auf den Kopf der Bevölkerung). Die Zahl der Platten-Abspielgeräte betrug Anfang 1959 etwa fünf Millionen.

Stationen der letzten phonotechnischen Entwicklung (bis 1959 !!)

Die Phonotechnik entwickelte also nach den harten Anfängen der ersten Nachkriegsjahre eine ausgesprochen gesunde Industrie in Deutschland.

Hier einige Stationen der letzten phonotechnischen Entwicklung:
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  • 1951 kam die Langspielplatte aus Kunststoff auf den Markt. Ihre »atmende Rille« und die Möglichkeit, eine längere Spieldauer zu fixieren, belebten das Geschäft in hohem Maße.
  • 1953 folgte die Einführung der 17-cm-Kunststoffplatte. Alle neuen Platten-Abspielgeräte wurden jetzt auf drei Geschwindigkeiten eingerichtet: 78, 33 1/3 und 45 U/min.
  • 1956 erreichte die 17-cm-Schallplatte in der Bundesrepublik vierundsiebzig Prozent der Gesamtproduktion.
  • Und 1958 wurde die alte 78er Schellackplatte endgültig vom deutschen Markt verdrängt. Im gleichen Jahre des Abschieds von der alten liebgewordenen Scheibe wurde ein neuer epochemachender Schallplattentyp auf den Markt gebracht: die Stereo-Platte.

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  • Anmerkung : Das stimmt so auch nicht mehr, denn die Vinylplatte kam bereits viel früher auf dem Markt. 1948/49 brachte die RCA die 17cm Single mit 45 U/min und dem großen Mittelloch auf den Markt. Die Konkurrenz brachte in Kampfeslaune in Windeseile die 33er LP auf den Markt, um selbst diesen neuen Welt-Standard zu setzen.

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Die Platte geht in die dritte Dimension - STEREO

»Heute jibt's keen Honorar, sondern Kilometerjeld!« knurrte ein Hornist der Berliner Philharmoniker, als er zum siebtenmal seinen Platz im Orchester wechseln mußte.
»Die Bässe noch mehr nach rechts 'raus!« befahl der weißhaarige Mann im schwarzen Hemd und band sich schwitzend seinen knallbunten amerikanischen Schlips ab. Dann hob er den Telefonhörer hoch, der an seinem Dirigentenpult hing, und sagte:
»Wir sind soweit! Die Technik soll das Startzeichen geben!« Nach einigen Sekunden leuchtete eine rote Lampe auf, und Leopold Stokowski hob seine Hand: es begannen die Schallplattenaufnahmen von Strawinskys Ballettmusiken »Feuervogel« und »Petruschka«.

Das war im Sommer 1957 in der Berliner Grunewaldkirche, Ecke Furtwängler Straße und Bismarck Allee. Die mächtige Aufnahmeapparatur, die fast die ganze Sakristei füllte, trug den komplizierten Namen »Mehrkanal-Simultan-Aufnahmegerät«. Am Mischpult, in dem die Impulse zahlreicher Mikrofone zusammenliefen, saß der Erbauer der Anlage: Toningenieur Peter Burkowitz aus Köln.

Das wird eine stereophone Schallplatte

Diese zahlreichen Mikrofone, die in der Kirchenhalle verteilt waren, trugen die Schuld daran, daß die Musiker immer wieder ihre Plätze wechseln mußten, bis sie endlich eine völlig unkonventionelle Sitzordnung eingenommen hatten: die Celli waren nach rechts in greifbare Nähe des Dirigenten gerückt, die Posaunen schwebten im Hintergrund auf erhöhtem Podium, die Streicher wurden zu einer geballten Ladung links vom Pult, und das Kontrafagott erhielt einen Ehrenplatz mit eigenem Mikrofongalgen.

Eine unkonventionelle Sitzordnung für eine unkonventionelle Aufnahmetechnik. Hier wurde eine Schallplatte aufgenommen, die räumliches Hören vermitteln sollte: eine stereophone Schallplatte!

1932 - Rücklick - Stereo-Aufnahmen in USA

Fast fünfundzwanzig Jahre vorher hatte der gleiche Leopold Stokowski, der als Jüngling bei Siemens in Berlin Technik studiert hatte, in der Constitution-Hall in Washington die Philadelphia-Symphoniker dirigiert; drei Mikrofone übertrugen damals die Musik auf drei Lautsprecher und erzeugten so einen plastischen Effekt.

Diese Versuche waren im Auftrage der Bell Telephone Company gemacht, die die erste brauchbare Stereo-Aufnahme 1935 herstellte, sie aber mangels Interesses nicht auswertete.

Auch die anderen Firmen experimentierten um diese Zeit mit »plastischen« Aufnahmen und meldeten Patente an, die dann aber wieder abliefen, weil kein Unternehmer sich dafür ernstlich interessierte.

»Nora« und der Holzkopf

Die Attraktion der Philips-Laboratorien war »Nora«, eine elegante Schaufensterpuppe, in deren Ohren zwei Mikrofone eingebaut waren. Später experimentierte Telefunken mit einem Holzkopf, der ebenfalls zwei Mikrofone als Ohren trug. Denn man erfaßt einen Klang nur dann plastisch, wenn auch Richtung und Entfernung, also auch die dritte Dimension, mitgehört werden können. Und das ist eben nur mit beiden Ohren möglich.

Weil das so ist - Nora und der Holzkopf haben es als Vertreter der Schallplattenhörer bewiesen -, nehmen die Techniker bei einer stereophonen Aufnahme den Klang über zwei getrennte Mikrofonsysteme gleichzeitig auf und führen ihn über zwei Wiedergabesysteme gleichzeitig zurück. Der Effekt: man glaubt, auf dem günstigsten Platz im Konzertsaal zu sitzen!

STEREO war bereits 1881 bekannt - in Paris

Französische Ingenieure erzielten schon vor der Erfindung der Schallplatte auf der Pariser Elektrizitäts-Ausstellung von 1881 einen plastischen Übertragungseffekt. Sie hatten in die Sofitten-beleuchtung der Grand Opera zahlreiche Kohlemikrofone eingebaut, die die Musik in die Ausstellung übertrugen. Mit Kopfhörern, einen für jedes Ohr, konnten die Besucher die Musik so plastisch hören, als säßen sie selber im Opernhaus.

Das Blümlein Verfahren ruhte bis 1957

Erst Anfang der fünfziger Jahre wurden die Stereo-Experimente wiederaufgenommen. Die Industrie einigte sich auf ein Aufnahme- und Wiedergabeverfahren, das auf den Versuchen des englischen Ingenieurs Blümlein (Patent von 1931) basiert. Zwei verschiedene Aufnahme-Impulse werden dabei in einer Rille vereinigt.

Als im Juli 1958 die ersten Stereo-Schallplatten herauskamen, konnten in der ganzen Welt die Platten aller Marken auf den Wiedergabegeräten aller Firmen gespielt werden: die größte Revolution seit Bestehen der Schallplatte war ruhig und ohne jedes »Blutvergießen« verlaufen.

Jahrzehntelang war »Stereo« Zukunftsmusik. Heute ist es Wirklichkeit - ein Geschenk der Technik an die Kunst.

(22) FINALE

Ob Hi-Fi oder Stereo, ob Schellack oder Kunststoff, ob ein-kanalig oder mehrkanalig-simultan - wichtiger als alle diese reichen Mittel der Technik bleibt bei der Schallplatte das reine Hörerlebnis, die Faszination der Stimmen und Instrumente.

Der Inhalt macht sie erst zum Phonogramm, zum klingenden Double der Natur, zum immer wieder reproduzierbaren Abenteuer im akustischen Bereich.

Im gesteigerten Maße ließ die Schallplatte Macht und Geheimnis der Schlagerstars offenbar werden. Der Saphir weckt ihre wundersam eingefrorenen Stimmen und macht sie zu tönenden Idolen, die die Massen bewegen - ob sie nun Freddy oder Fred Bertelmann, Caterina oder Conny, Doris Day oder Frank Sinatra heißen. Jedoch der Ruhm dieser Träger von Goldenen Schallplatten, Goldenen Hunden und musikalischen Oscars lebt meist nur so lange, wie die Mode ihrer Lieder vorhält.

Manche Stars bleiben unvergessen und unvergänglich

Unvergessen, unvergänglich bleiben dagegen die Stars des zeitlosen Repertoires, die großen Künstler von Podium und Bühne. Ihr Ruhm bleibt jenseits aller musikalischen Modeströmungen.

Auch sie brauchen - wie die Schlagerstars - bisweilen den Glanz des äußeren Geschehens, die sichtbare Szene. Sie brauchen sie für den Augenblick - nicht aber für die Dauer!

Das Phänomen - Maria Callas

»Costa Diva«, singt die Callas, »keusche Göttin . . .«In ihrem schwarzen Haar leuchtet das Diadem. Ihre schmalen Hände unterstützen die Dramatik des Gesanges. Die Teleskope der Fernsehkameras werfen die Szene auf die Bildschirme von zwölf Eurovisions-Nationen. Die Szene ist kostbar: Galaroben und Abendanzüge auf den zweitausendzweihundert Plätzen der Pariser Oper.

Vierundzwanzig junge Damen der Gesellschaft bewegen sich augenfällig chique als Platzanweiserinnen. Das Programmheft ist ein wahres Schmuckstück; es wiegt ein Kilo und kostete dreitausend Franc.

Das optische Ereignis wird zur schönen Sensation. Der Augenblick genießt Glanz und Gloria ringsum. Das Erlebnis für die Dauer aber, die eigentliche künstlerische Substanz, vermittelt erst das Ohr. Dieses Erlebnis wird von der Schallplatte festgehalten.

»Costa Diva« singt die Callas. Manch ein Musikfreund schließt die Augen. Er braucht das Bild nicht. Wenn er nur die rechte Fähigkeit zum Hören hat - seine Phantasie ergänzt die Szene auf individuelle Art. »Wer mir singt, soll unsichtbar bleiben«, sagt Goethe. »Seine Gestalt soll mich nicht bestechen oder irre machen . . .«

Nachtrag

Er, der universale Mensch, der zeit seines Lebens bereit war, die Welt mit allen Sinnen in sich aufzunehmen, spricht hier den eigentlichen Auftrag der Musik aus: sie bleibe im akustischen Bereich!

Die Schallplatte konserviert das reine Hörerlebnis. Trotz Fernsehen, Film, Podium und Bühne ist und bleibt sie einer der bedeutsamsten Kulturträger unserer Zeit.

(23) KLEINE DISKOTHEK HISTORISCHER AUFNAHMEN

Die Serie »Unvergänglich - unvergessen« der Electrola bietet Aufnahmen alter Matrizen, die technisch »entstaubt« wurden.

Es singen und spielen Fedor Schaljapin und Fritz Kreisler, Richard Tauber und Joseph Schmidt, Max Lorenz und Maria Cebotari, Benjamino Gigli und Karl Erb, Fritzi Massary und Ciaire WaldofT, Michael Bohnen, Peter Anders und viele andere mehr.

Die Serie »Musikalische Dokumente« der Telefunken bietet Aufnahmen, die um die Jahrhundertwende auf dem Welte-Mignon-Klavier gemacht wurden. Es spielen Komponisten wie Debussy, Reger, Mahler und Grieg eigene Werke, ferner Klaviervirtuosen wie Alfred Grünfeld, Ferruccio Busoni und Frederic Lamond.

Das Hauptwerk Carusos ist auf RCA erhältlich. Aus den Jahren 1902 bis 1920 wurden drei Langspielplatten mit den wichtigsten Arien und Liedern zusammengestellt. Als EP-Platte: »Die vier Bestseller Carusos«.

Die »Künstlerporträt«-Serie der Deutschen Grammophon brachte einige LP-Platten »in memoriam« heraus: Enrico Caruso, Heinrich Schlusnus, Maria Cebotari, Georg Hann, Leo Slezak, Peter Anders u. a.

Die Serie »Les Gravures Illustres« mit musikhistorischen Aufnahmen von Arthur Schnabel, Felix Weingartner, Serge Prokofieff, Claudia Muzio, Nadja Boulanger u. a. kam bei Pathe-Marconi heraus.

An Einzelplatten nennen wir:

»75 Jahre Berliner Philharmoniker«, Deutsche Grammophon
»Die Jugendjahre der Schallplatte«, Deutsche Grammophon Fritz Kreisler
»Beethovens Frühlingssonate«, Electrola Rachmaninoff spielt sein Klavierkonzert Nr. 2, Electrola ASD Thibaud, Cortot, Casals
»Trio Nr. 1 B-Dur«, Schubert, Electrola
»Die Dreigroschenoper«, alte Aufnahme, Telefunken

Jazz:

Älteste Aufnahmen, die jedoch technisch nicht verbessert worden sind, findet man in der Serie »Origins of Jazz«, London. Original Dixieland Jazz Band (»Tiger Rag« u.a.), Electrola »The Bix Beiderbecke Story«, eine Langspielplatte bei Philips Benny Goodmans »Carnegie Hall Concert«, Philips »Louis Armstrong and his Hot Five«,
Aufnahmen aus den Jahren 1925 bis 1927 von hervorragender technischer Qualität, Philips »Glenn Miller Army Air Force Band«, eine Sammlung von
fünfzehn EP-Platten bei RCA

PaulWhiteman und sein Orchester spielen die »Rhapsodie in Blue« auf Capitol und Coral. In der RCA-Aufnahme: George Gershwin am Klavier.

Alte Schlager und Chansons:

»J'ai deux amours«, Electrola ASD Yvette Guilbert »Madame Arthur« und andere Chansons, ASD Mistinguett
»Je cherche un millionaire« u. a. Chansons, ASD Lucienne Boyer
»Parlez-moi d'amour«, Columbia und Philips Marlene Dietrich mit alten Chansons auf Electrola und Philips Otto Reutter
»In fünfzig Jahren ist alles vorbei«, Polydor Ciaire Waidoff
»Wer schmeißt denn da mit Lehm?«, Electrola Teddy Stauffer
»Say Si Si« und anderes, Telefunken Comedian Harmonists
»Wochenend und Sonnenschein«, Electrola Jeanette Mac Donald, Nelson Eddy mit alten Filmschlagern auf RCA

(24) QUELLENVERZEICHNIS

Dieses Buch entstand aus zahllosen Unterhaltungen mit Künstlern, Technikern und Kaufleuten der Schallplattenindustrie in Deutschland, England, Frankreich und Holland.

Darüber hinaus bedienten sich die Autoren der Archive der internationalen Schallplattenfirmen und alter Phonozeitschriften.

An Buchquellen wurden benutzt:

Baker, Josephine: Memoiren, München 1928
Beecham, Sir Thomas: A mingled Chime, London 1952
Berendt, Joachim Ernst: Das neue Jazzbuch, Frankfurt/Hamburg 1959
Blaukopf, Kurt: Hexenküche der Musik,
Teufen Cande, Roland de: Ouvertüre pour une Discotheque, Paris 1956 Caruso, Dorothy: Enrico Caruso, Hamburg 1954 Un Demi-Siecle de Succes, Pathe Marconi, Paris 1956 Facius, Walter: Das Schallplattenbuch, Düsseldorf 1956
50 Jahre Lindström, Köln 1957
Gaisberg, F.W.: Music on Record, London 1948
Gelatt, Roland: The fabulous Phonograph, Philadelphia 1956
Hempel, Frieda: Mein Leben dem Gesang, Berlin 1955
Jungermann, Jimmy: Schallplatten - mein Hobby, München
Kiaulehn, Walter: Berlin, München 1958
Lochner, Louis P.: Fritz Kreisler, New York 1950
MagidofT, Robert: Yehudi Menuhin, London 1956
Mezzrow, Mezz: Jazz-Fieber, Zürich 1956
Musik und Dichtung, Gema 1953
Pathe, Charles: Souvenirs et Conseils d'un Parvenü, Paris 1926
Pem: Und der Himmel hängt voller Geigen, Berlin 1955
Schaljapin, Fedor Iwanowitsch: Mein Werden, Berlin 1928
Schulz-Köhn, Dietrich: Die Schallplatte auf dem Weltmarkt, Berlin 1940, Dissertation

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