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(17) SCHWARZER FREITAG IN MOLL

Das war die »Zeit des wundervollen Unsinns«! Zwischen dem Waffenstillstand von 1919 und dem Börsenkrach von 1929 tanzte Amerika zur hektischen Schallplattenmusik in eine scheinbar »neue Freiheit« hinein. Man sprach von der »gesetzlosen Dekade«, vom Jahrzehnt des »raschen Reichwerdens«.

Wenn der Erfolg blind macht

Wie Trommelstöcke wirbelten die Beine im Charleston. Man lebte für das »Jetzt und Hier« und sah mitten im Amüsement der Gegenwart nicht, wie sich eine der schlimmsten Wirtschaftskatastrophen aller Zeiten zusammenbraute.

Die Flappergirls der amerikanischen Großstädte gaben sich flachbrüstig und lebensverliebt, sie trugen zum Bubikopf das kniefreie Kleid, in dem man besser und entfesselter tanzen konnte, sie schminkten sich fahl, rauchten, lasen Freud und tranken Badewannen-Gins auf Hausparties oder »Tee« in den Speakeasies der Prohibitionszeit.

Sie empörten sich über die Hinrichtungen von Sacco und Vanzetti und schnatterten Lobesworte über den Lindbergh-Flug und die Rhapsodie in Blue.

Von ihrem reschen Sex begann eine ganze Industrie zu leben - auch die Schallplattenindustrie. Sie setzte in den Rekord jahren 1928 und 1929 wahrhaft Fett an.

Der Präsident : »Indem ich große Probleme vermeide.«

Das Schlüsselwort dieser heißen, von Saxophonen übertönten Epoche sprach US-Präsident Coolidge. Seine Antwort auf die Frage, wie er sich in guter Form halte, lautete: »Indem ich große Probleme vermeide.«

Die großen Probleme kamen aber trotzdem, und die gute Form zerbrach. 1929 setzte eine Depression ein, die mindestens sechs Jahre lang vorhielt. Aus den »Happy Twenties« waren die »Dirty Thirties« geworden.

Purzelnde Ziffern - nach dem »Hustenanfall« kam der »Schnupfen«

Es war nicht zu vermeiden: bereits nach dem ersten »Hustenanfall« von Onkel Sam kriegte Europa einen gefährlichen »Schnupfen«. In Deutschland ging es rapide abwärts mit dem Schallplattenumsatz. 1929 waren dreißig Millionen Platten verkauft worden; ein Jahr später nur noch zwanzig Millionen, 1933 zehn Millionen, und 1935 war der Tiefpunkt mit fünf Millionen Platten erreicht.

Von hundert Millionen Platten auf sechs Millionen

In Amerika waren Anfang der zwanziger Jahre noch über hundert Millionen Platten umgesetzt worden; 1932 nur noch sechs Millionen.

Das lag nun keinesfalls daran, daß die schwarze Scheibe etwa in ihrer Publikumsgunst gesunken war. 1932 gab der »Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser« in einer Denkschrift die zugkräftigsten Artikel bekannt: dabei rangierte die Schallplatte gleich als fünfter Posten hinter Lebensmitteln, Textilien, Kernseife und Schuhsohlen. Nein, die Schallplattenauflagen schrumpften nicht wegen versagender Liebe, sondern wegen Geldschwundes in den Portemonnaies der Kunden.

Das war ein harter Schlag für die Phonoindustrie. Durch die Flucht in die Sachwerte während der Inflation und durch die letzten Rekordjahre waren ihre Produktionsapparate ziemlich aufgebläht. Jetzt aber hatten die Pressen plötzlich nicht mehr genügend Futter und standen hart vor dem Hungertod.

Die Geburt der Telefunken-Platte

Ein hochdramatischer Fall jener Jahre war der Zusammenbruch des Küchenmeister-Konzerns. Der Deutsche Heinrich J. Küchenmeister hatte seine Firma 1925 mit der Fabrikation von Sprechmaschinen stark gemacht. Später stellte er auch Schallplatten (Ultraphon) her und dehnte seine Produktion auf Tonfilm (Tobis) und Radio aus. Sogar eine »Akustische Illustrierte« lief in der Planung.

Küchenmeister fand den Anschluß an die internationale Hochfinanz und faßte seine Firmen schließlich in der Holding-Gesellschaft N. V. Küchenmeisters Internationale Mij. voor Accoustiek mit Sitz in Amsterdam zusammen. Soweit ging alles gut.

1929 aber fielen die Aktien plötzlich von hundertdreißig auf achtzig, und es wurden Kredite gekündigt. Am 25. Juli 1931 meldeten Telegramme aus Amsterdam »Störungen bei Küchenmeister«. Zwei Tage später stellte die Deutsche Ultraphon ihre Zahlungen ein. Der Küchenmeister-Konzern samt seinen drei Schallplattenfirmen Ultraphon, Adler und Orchestrola zersplitterte und brach zusammen.

1932 hat Telefunken zugeschlagen

An den Trümmern dieses Elektrokonzerns stand im Jahre 1932 Telefunken und erwarb für hunderttausend Reichsmark das gesamte Matrizenlager der "Ultraphon", ferner der ebenfalls in Liquidation befindlichen "Musica Sacra". Damit war praktisch eine neue Schallplattenmarke ins Geschäft gekommen, die bis heute in ihrer Bedeutung ständig zunahm: die Telefunken-Platte. Sie trat Küchenmeisters Erbe an.
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  • Anmerkung und Nachtrag : Die Ironie der Geschichte ist aber, daß gearde diese Banken, die dem Küchemeister Konzern den Geldhahn zugedreht hatten, der Telefunken "Luftnummer", Telefunken war von Anfang an immer "blutarm", die Kredite gewährt hatten, um die Konkursbrocken aufzukaufen.

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Die große "Titelei"

Der Gesamtumsatz an Schallplatten fiel; der Pegelstand des Titelangebots aber stieg. 1931 erschienen monatlich ungefähr dreihundert verschiedene Titel auf dem deutschen Schallplattenmarkt. Drei Jahre später wiesen die Kataloge etwa folgenden Umfang auf:

  1. Electrola 6000 Plattentitel
  2. Columbia 1000 Plattentitel
  3. Odeon-Gruppe 4000 Plattentitel
  4. Deutsche Grammophon 5000 Plattentitel
  5. Telefunken 900 Plattentitel


Vor allem war es die heitere Muse
, die sich nicht unterkriegen lassen wollte. Auf der Jagd nach dem »Schlager« preßte alles munter drauflos. Nicht nur die oben genannten großen Firmen versuchten in harten Zeiten ihr Glück, sondern auch zahlreiche kleine Produzenten spielten in der singenden, klingenden Lotterie mit. Manche Händler gingen so weit, ihre Platten unter eigenem Etikett produzieren zu lassen.

Telefunkendirektor Dr. Walter Facius sprach damals von »Kuchenbäckern, die schwarze Töne fabrizieren«. Zu dieser Zeit gab es ungefähr hundert verschiedene Plattenmarken in Deutschland.

Viele der Firmen verdienten gut;
genauso viele aber verloren Kopf und Kragen. Summa summarum ging es mit dem Umsatz rapide bergab.

Der Krieg »Platte« gegen »Sender«

Die Phonoindustrie in Deutschland glaubte zunächst, daß der Rückgang ihrer Auflagen in den frühen dreißiger Jahren mit dem Vordringen des Rundfunks zusammenhänge. Das aber war ein Irrtum. Auch der Rundfunk litt unter der allgemeinen Geldknappheit. Seine Zuwachsrate war 1930 um fünfunddreißig Prozent zusammengeschrumpft.

Die »sieben fetten Jahren«

Weil der Rundfunk damals mehr als heute auf die Unterstützung der Schallplatte angewiesen war (»Bis zur nächsten Schallplattensendung spielen wir Schallplatten!«), wurde als Gegenleistung jeweils vor und nach dem Abspielen einer Schallplatte das Fabrikat genannt. Das war eine Reklame, die den Herstellerfirmen in den »sieben fetten Jahren« sehr willkommen war.

Nun die »sieben mageren Jahre«

An der Schwelle der »sieben mageren Jahre« aber, im Jahre 1932, erklärten einige Schallplattengesellschaften dem Rundfunk plötzlich den »Krieg«. Sie sperrten ihre Gratislieferungen.

Diejenigen Firmen indessen, die den Rundfunk weiterbelieferten, merkten bald am steigenden Umsatz ihrer Platten, wie sinnlos die anderen handelten. Doch sie konnten in dem Krieg »Platte gegen Sender« nicht lange mehr die Neutralen spielen. In acht europäischen Ländern prozessierte damals die Phonoindustrie gegen die Rundfunkgesellschaften.

1935 - Der Rundfunk muß von nun an bezahlen

1935 kam es in Deutschland zu einer Vereinbarung, die nach gewissen finanziellen Modifikationen noch heute gilt: dem Rundfunk wurde die Pflicht auferlegt, die Industrien fortan für ihre Plattenlieferungen zu bezahlen. Die Pauschale betrug dreihunderttausend Reichsmark für die Benutzung von fünfundzwanzigtausend Platten im Jahr; jeweils sechzigtausend Reichsmark sollten für weitere fünftausend Platten gezahlt werden.

Dafür keine Werbung mehr für die Labels

Natürlich wurden seit Inkrafttreten dieser Regelung die Namen der Plattenmarken nicht mehr in den Äther gestrahlt. Mit der klingenden Insertion ist es seit dem Rundfunk-Schallplattenkrieg von 1935 endgültig vorbei.

Künstler müssen auch essen!

Die Schallplattenfirmen standen aber noch vor einem weiteren harten Problem. Die Tantiemen, die an die Schöpfer des Repertoires zu zahlen waren - also an die Urhebergruppe Verleger, Komponist, Texter -, erhöhten sich ausgerechnet im bitteren Jahr 1930 von vier Prozent auf siebeneinhalb Prozent. Im Gesicht mancher Phono-direktoren mehrten sich die Sorgenfalten.

Indessen, auch Künstler müssen essen! Sie müssen sich ihr Brot verdienen wie jeder andere Berufstätige auch. Es ist ihr klares Recht, daß sie am Schallplattengeschäft partizipieren.

Zwar hört sich das alles wie eine Binsenweisheit an, doch es waren trotzdem viele harte Kämpfe nötig, um diese Weisheit zum Allgemeingut zu machen.

Blenden wir zurück:

1903 war in Frankreich eine Gruppe von Verlegern und Autoren zusammengetreten, um vor den Schranken des Gerichts den Phonographen als »Verletzer des Urheberrechts« anzuklagen. Man kann sich gut vorstellen, wie den Herren »Urhebern« damals die Zornesadern schwollen, als ihre Binsenweisheit in die Binsen ging.

Sie verloren den Prozeß.

Aber sie gaben nicht nach. Für ihren zweiten Vorstoß engagierten sie einen der gewievtesten Rechtsanwälte Frankreichs: Raymond Poincare, der später neunter Präsident der Republik wurde. Dieser spitzbärtige Mann mit den schwarzen stechenden Augen wies nach, daß mit der alten verstaubten »Air de musique« von 1864 und 1886 der Phonograph noch nicht berücksichtigt worden war. »Denn, meine Herren, damals hielt kein Mensch eine solche Erfindung für möglich!«

Somit war Frankreich der Vorreiter bei den Tantiemen

Allerdings! - die Appellationsrichter von Paris nickten mit dem Kopf. Im Februar 1905 gaben sie Poincare schließlich recht. Seitdem erhalten die Urheber von Schallplatten mit Musik und Text ihre Tantiemen. Für reine Musikplatten aber - das klingt wie ein Witz - wurde erst ab 1917 Tantieme gezahlt.

Immerhin aber wurde die Schallplattenindustrie in den folgenden Jahren zur Schrittmacherin in der urheberrechtlichen Entwicklung auch für die anderen Zweige der mechanisch-musikalischen Industrie - besonders für Tonfilm und Radio.

In Deutschland erstreckt sich der urheberrechtliche Schutz (und damit das Recht zum Kassieren) für Werke der Literatur und der Tonkunst bis fünfzig Jahre nach dem Tode des Autors.

Was verdienen heute 1959 die Künstler?

Heute haben sich sowohl die Urheber als auch die Schallplattengesellschaften aus dem gedämpften Moll der dreißiger Jahre längs wieder herausmoduliert. Es gibt für sie - toi-toi! - keinen schwarzen Freitag mehr. Ihre Gegenwart steht in Dur!

Die Urheber kassieren in Deutschland heute acht Prozent vom Verkaufspreis einer Schallplatte. Bei einer Normalplatte von vier Mark wären das also zweiunddreißig Pfennig für Komponisten, Textdichter und Verleger. Dieses Geld zahlt ihnen die GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte), nicht die Schallplattengesellschaft direkt.

16 Pfennige pro Plattenseite

Acht Prozent pro Platte - das sind bei einer Normalplatte also sechzehn Pfennig pro Plattenseite. Nachdem die GEMA hiervon fünfzehn Prozent für Verwaltungsgebühren abgezogen hat, kommen 13,6 Pfennig zur Verteilung: für den Verleger 6,8 Pfennig und für Komponist und Texter je 3,4 Pfennig. Das ist jedenfalls die Norm, die bei Dreiminutenschlagern zutrifft.

Der Interpret eines solchen Schlagers aber wird nicht per Tantieme, sondern per Lizenz abgegolten. Jedenfalls dann, wenn sein Name wirklich verkaufsfördernd wirkt, wenn er also eine »Lokomotive« des Geschäfts ist! Je nach Zugkraft ist er dann mit einer Lizenz zwischen fünf und zwölf Prozent (vom Großhandelspreis: etwa zwei Mark fünfunddreißig) am Plattenumsatz beteiligt.

Polydor zahlte zweieinhalb Millionen Mark an Caterina Valente

Ja, und diese Pfennigbeträge können zu glänzend goldenen Zahlen führen. Im Frühjahr 1959 teilte zum Beispiel Dr. Ernst von Siemens auf einer Aktionärsversammlung mit, daß die Vorstandsmitglieder seiner Firma längst nicht so viel verdienen wie »eine bekannte Schlagersängerin« (Caterina Valente), die von der Polydor ein hohes jährliches Fixum für fünf Jahre im voraus forderte (insgesamt zweieinhalb Millionen Mark). Als die Polydor ablehnte, so fuhr Dr. von Siemens fort, erklärte eine andere Firma (Teldec) sich bereit, dieses Geld zu zahlen. »Männer, die ein Unternehmen wie Siemens leiten, sind aber mindestens ebenso wertvoll und ebenso rar wie - eine Schlagersängerin«, schloß Dr. von Siemens seine bittere Bemerkung.

Paul Anka hatte mit 18 bereits 2 Millionen pro Jahr

Doch Caterina ist nur ein »Waisenmädchen« gegen einen Jungen wie Paul Anka, den kanadischen Teenagersänger. Da Anka seine Schlager nicht nur singt, sondern meist auch noch komponiert, textet und verlegt, kassiert er neben seinen Sängerlizenzen auch die Urhebertantiemen, und zwar hundertprozentig! Da fast alle seine Schlager Millionenauflagen erreichten (»Diana« mehr als acht Millionen Schallplatten), wird das Jahreseinkommen des achtzehnjährigen Paul Anka auf mindestens zwei Millionen Mark geschätzt. Das wichtigste Rad im Getriebe dieses Millionen-Erfolges ist aus schwarzem Kunststoff: die Schallplatte ist das offene Geheimnis des Phänomens Paul Anka!

Bestseller von damals!

Klar, in den wirtschaftsschwachen dreißiger Jahren gehörten solche Auflagehöhen noch ins Gebiet wüstester Tagträume. Damals überließ man Zahlen dieser Größenordnung neidlos den Astronomen.

Hier einige Beispiele:

1936 erreichte der Schlager »The Music goes round and round« in Amerika eine Rekordauflage von hundert-tausend Stück. Drei Jahre später erzielten die »Beer-Barrel-Polka« (Rosamunde) und »A tisket, a tasket« sage und schreibe dreihundert-tausend Stück.

Für solche milden Ziffern stellt kein amerikanischer Schallplattenboss heute noch eine Batterie Sekt kalt.

In Deutschland brachte es Zarah Leander mit zwei Melodien aus dem Film »Premiere« auf dreißig-tausend Stück. Drei weitere Baßbaritonsopran-Platten der Leander (»Zu neuen Ufern«) gingen damals mit einem Wochenumsatz von dreitausend-fünfhundert Stück weg und brachten es insgesamt auf etwa hundert-tausend.

»Hummel-Hummel mit Humor« wurde in elf Monaten zwölf-tausendmal verkauft; das »Münchner Hofbräuhaus« brachte es in der gleichen Zeit aber nur auf achttausend Platten.
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Platten, die Geschichten machten :
Das Lied vom »Einsamen Sonntag«

Ein internationaler Bestseller wurde trotz Acht und Bann in jenen Jahren das Lied vom »Einsamen Sonntag«. Es kam aus Ungarn. Der Halbzigeuner Reszo Seress schrieb es 1934, nachdem seine Verlobte ihn im Stich gelassen hatte, um einen anderen zu heiraten.
»Ich kam zurück in mein einsames Zimmer und wußte doch weinend: Du bist nicht mehr da . . . !«

Einige Verleger hatten das Notenmanuskript mit den Tränenflecken zunächst abgelehnt, und so kam es erst im Herbst 1935 auf einer Schallplatte heraus. Als Seress' Ex-Verlobte diese Platte zum erstenmal im Radio hörte, nahm sie Gift.

Die Nachricht verbreitete sich über die ganze Welt, und der »Einsame Sonntag« trat in einem geradezu globalen Ausmaß einen »Siegeszug des Todes« an.

Ungarn meldete neunzehn Selbstmorde, Italien vier, Spanien drei und England zwei. Kein Wunder: die Schallplatte wurde fortan unterdrückt und aus vielen Rundfunkarchiven verbannt. Trotz Verbot aber war sie nicht tot! »Dieses traurige Lied ist und bleibt mein bestes Werk«, sagte später Reszo Seress, der Komponist. Seine Freunde aber antworteten ihm mit einem alten Zigeunerspruch: »An manchen Melodien hängt ein Fluch: Spiel sie nicht mehr! Hör sie nicht mehr!« Doch der »Einsame Sonntag« wird noch heute gespielt und gehört.

Marlenes Lieder aus dem »Blauen Engel«

Eine andere bedeutende Schallplatte jener Jahre: Marlenes Lieder aus dem »Blauen Engel«. Kurz vor der Premiere des Films kamen die ersten zweihundert fertigen Platten in den Electrola-Laden in Berlins Leipziger Straße. Sie hatten kaum drei Stunden in den Regalen gelegen, als ein erregter Anruf aus der Fabrik kam: »Es hat Ärger mit den Filmleuten gegeben. Die Platten dürfen auf keinen Fall verkauft werden.«

Sie waren aber bereits verkauft - alle zweihundert! Und sie wurden in kürzester Zeit ein wahrer Welterfolg, diese Kaschemmenlieder der blonden Preußentochter Marlene Dietrich. Sie sind noch heute ein Welterfolg!

»Swingtanzen polizeilich verboten!«

Bis in unsere heutigen Tage hinein strahlen die Namen einiger populärer Musiker, die den Ruhm der Schallplatte schon in den dreißiger Jahren mehrten. Hier zunächst einige Orchesterchefs:

  • Barnabas von Geczy aus der Rakoczygasse in Budapest, einst erster Konzertmeister an der Budapester Staatsoper, wurde zum »Paganini der Fünf-Uhr-Tees« im Berliner Hotel »Esplanade«.
  • Im »Adlon« spielte Marek Weber und in der »Villa d'Este« Dajos Bela.
  • Auch Robert Gaden, der Geiger aus Bordeaux, gründete in Berlin ein Orchester: die »Tanz-Sinfoniker«. Mit einem Trio hatte er vorher in der Argentinischen Botschaft gespielt und dort einen ganz gewissen Tanzrhythmus kennengelernt; mit seinem großen Orchester verbreitete er ihn später in Deutschland und im Ausland: den Tango.
  • Will Glahe war von Hause aus eigentlich Pianist; er hatte in Köln Musik studiert. Als bei einigen Schallplattenaufnahmen für das Ausland plötzlich Harmonikas verlangt wurden, wechselte er auf dieses Tasteninstrument um. Und er blieb bis heute dabei. In Amerika ist sein Name nicht weniger bekannt als in Deutschland.
  • Im Berliner Sportpalast dirigierte ein Mann, der kurz zuvor noch Stehgeiger im Gartenorchester einer Berliner Bockbierbrauerei gewesen war: Otto Kermbach.
  • Im Berliner »Imperator« spielte Kurt Widmann. Er hatte seine kühne Musikalität schon als Schüler der Pannwitz-Freiluftschule Hohenlychen, bewiesen. In den Schulakten steht zu lesen: »Der Schüler Widmann hat bei einem Schulausflug, in dem eine Kirchenbesichtigung enthalten war, in selbiger Kirche die Orgel zu mutwilligen Eskapaden mißbraucht und so seine Mitschüler zu frechen Tänzen im Kirchenschiff verführt.« Nun, er verführte seine Volksgenossen auch später noch: im »Imperator« in der Friedrichstraße. Unter dem Schild »Swingtanzen polizeilich verboten!« blies er eine geradezu »staatsfeindlich« schräge Musik.

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»Ich singe nun mal so gern!«

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  • Anfang der dreißiger Jahre sagte Gustaf Gründgens über seine Schallplatten: »Ja, eigentlich sind sie nur aus einem Privatvergnügen entstanden. Ich singe nun mal so schrecklich gern. Ach, ich würde direkt was drum geben, wenn ich in Glogau Heldenbariton sein könnte. Nur die hohen Töne, wissen Sie - ich kriege jedesmal wieder Angst, wenn ich sie auf meinen Platten höre.«
  • Weniger Angst vor den hohen Tönen auf ihren Schallplatten hatten damals Marcel Wittrisch, der Liebling des Publikums, Jarmila Novotna, Vera Schwarz und Maria Jeritza, die »beste Tosca aller Zeiten«.
  • Maria Cebotari wurde fast vergöttert, und Richard Tauber durfte in Berlin mit Monokel und wehendem Schal bei Stoplicht über die Kreuzungen chauffieren, und die Schutzleute standen sogar noch stramm.
  • Auch die blonde Gitta Alpar, der polnische Tenor Jan Kiepura und seine ungarische Frau Martha Eggerth verdankten ihren damaligen Ruhm zum großen Teil der Schallplatte. Sie lieferte ihre schönen Stimmen unentwegt frei Haus.
  • Nicht weniger berühmt, geachtet und geliebt war ein anderthalb Meter großer Tenor aus der Bukowina, ein gewisser »Jojica«, von dem die Gesangspädagogin Dr. Jaffe in Berlin sagte: »Ich habe soeben die schönste Stimme gehört, die es je gegeben hat - ein kleiner Mann mit einer Wunderkehle: Joseph Schmidt
  • Auch die vielen Karnevalslieder, mit denen Willi Ostermann aus Köln-Sülz damals die Sorgen und Freuden seiner Mitmenschen besang (»Dem Schmitz sing Frau ess durchgebrannt«), sind bis heute nicht verklungen.
  • Und die Comedian Harmonists, die ihre Stimmen nach bewährter Reveller-Art wie Instrumente einsetzten, brachten es zu Erfolgen, die in ihrer Musikalität noch heute bestehen können. Einige Jahre später, als es in Deutschland dann eine »Reichskulturkammer« gab, mußten die Comedian Harmonists sich in »Meistersextett« umtaufen lassen. In der letzten Konsequenz aber ließ sich die Schallplatte nicht auf die neuen »reinrassigen« und »nationalen« Tugenden jener Jahre drillen.

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  • Mit Künstlern wie der Schwedin Zarah Leander, der chilenischen Nachtigall Rosita Serano und der Pariserin Lucienne Boyer wahrte sie sich wenigstens einen Hauch von Internationalität.
  • Teddy Stauffer, Jack Hylton und die Lecuona Cuban Boys erzielten damals größere Auflagen als mancher neudeutsche Barde.
  • Und unter dem Ladentisch blieben die alten Aufnahmen der »Dreigroschenoper« in der Originalbesetzung vom Schiffbauerdamm-Theater klingende Dokumente der inneren Emigration. Auch unter dem Hakenkreuz wahrte die Schallplatte ihre internationale Tradition. Trotz mancher Platitüden wurde sie nicht so platt wie die Erlasse der »Reichskulturkammer«.

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(18) NACH REGEN KOMMT SONNE - 1932

»Aufstieg und Fall des Phonographen« - so hieß der alarmierende Artikel, den der American Mercury im September 1932 veröffentlichte. Er las sich wie ein düsteres Gleichnis aus der Apokalypse.

Autor Dane York sprach offen aus, daß es auf dem amerikanischen Schallplattenmarkt der frühen dreißiger Jahre noch viel schlimmer aussehe als in der europäischen Schellackbranche. Er machte deutlich, wie sich Amerikas Phonofirmen in der Linie des geringsten Widerstandes durch die Wellentäler der Wirtschaftskrise schlängelten.

Keine Chance gegen den Strom

Brunswick und Columbia nahmen jahrelang fast nichts anderes als Tanzmusik für den Tagesbedarf auf. Die RCA-Victor produzierte eigentlich nur noch aus alter Anhänglichkeit für den Rundfunk. Alle Bemühungen, gegen den Strom zu schwimmen, hatten nur wenig Erfolg.

Die großen Aufnahmen mit Leopold Stokowski und dem Philadelphia-Orchester blieben zunächst reine Prestigeproduktionen. Sie zahlten sich erst später aus. Damals erreichten selbst populärste Sinfonie-Alben kaum höhere Auflagen als fünfhundert Stück im Jahr.

Eine Langspielplatte 1931 ???

Man versuchte es mit technischen Neuerungen. RCA-Victor brachte am 17. September 1931 eine Platte mit dreiunddreißig-eindrittel Umdrehungen pro Minute heraus: damit war die Langspielplatte geboren. Doch sie bescherte vorerst nicht den erwarteten geschäftlichen Aufschwung.

  • Anmerkung : Das war eine Fehlinformation - das ist nämlich falsch. Hier handelte es sich um eine spezielle 40cm Schellack-Platte für den Tonfilm, die zumal auch noch von innen nach außen bespielt wurde und gerade eine Aktlänge von ca. 7 Minuten abdecken sollte. Weder die Plattenspieler noch die Platten kamen jemals in den Handel vors Publikum. Ganz wenige "Nadeltonfilme" wurden so präsentiert.

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»High Fidelity« (Hi-Fi) um 1934 war ein Flop

Auch der Ausdruck »High Fidelity« (Hi-Fi), der 1934 über Zeitungsannoncen in den Sprachgebrauch eingeschleust werden sollte, lockte keinen Sturm auf die Schallplattenläden hervor. Werbeslogans, wie »Also sprach Zarathustra - die Platte mit dem tollsten Crescendo, das jemals aufgenommen wurde«, machten die geldschwachen Käufer nicht gleich zu Kulturfanatikern.
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Phono-Späße

Ein wenig wirksamer waren schon die kleinen zweckdienlichen Witze, die damals in die Zeitungen eingestreut wurden. Da ist zum Beispiel der berühmte Stoßseufzer der Klaviertransporteure:

»Warum kaufen sich die Leute eigentlich immer noch so große Kästen, wo es doch jetzt diese billigen, kleinen Plattenspieler gibt ?«

Oder die Faustregel zum Verscheuchen ungebetener Gäste: »Wenn ich Musik höre, bin ich immer ganz weg!« sagt mancher Gast. Man antwortet ihm: »Wenn es so ist, werde ich Ihnen gern eine meiner Platten vorspielen!«

Und schließlich die Klipp-Schule für allgemeinmusikalische Bildung.

  • »Damit Sie's wissen, meine Herrschaften:
  • Lehar war ein Graf aus Luxemburg!
  • Rossini war ein Barbier aus Sevilla!
  • Chopin schrieb alle seine Werke in polnisch!
  • Tosca ist eine Abkürzung für Toscanini!
  • Gilbert und Sullivan waren zwei Gondolieri!
  • Mandoline nennt man einen hohen Würdenträger in China!«

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1932 - Schlager, Gangster, Automaten

Als erfolgreicher Anlaßmotor für das defekte Schallplattengeschäft erwies sich im Jahre 1932 erst die Juke-Box. Das Groschengrab der Schallplattenautomaten kurbelte langsam aber sicher den Konsum wieder an.

Woher kamen die Tingeltangel-Roboter ?

Nun, sie haben eine ehrwürdige Geschichte: Die Chinesen bauten schon im 12. Jahrhundert ein handgetriebenes Glockenspiel. Leonardo da Vinci konstruierte ein Geigenwerk, und bereits im 16. Jahrhundert tauchte in Wien das erste automatische Klavier auf, ein Ungetüm, das pferdebespannt durch die Lande zog. Mozart schrieb Kompositionen für eine mechanische Orgelwalze, Haydn notierte Melodien für eine Flötenuhr, und Beethoven schrieb eigens für das monströse »Panharmonium« des Herrn Mälzel seine »Schlacht bei Vittoria«.

Das Pianola der »feschen Lola«

Zuggewichte, Uhrfedern und Magnetmotoren trieben diese Entwicklung weiter voran. Nach Drehorgeln und Karussell-Orchestrion wurde uns 1888 von Louis Glas der erste Münzmusikautomat beschert. Ihm folgte das elektrische Klavier mit dem Startrepertoire »Das Gebet einer Jungfrau«, das bald darauf zum Pianola der »feschen Lola« wurde.

Der Juke-Box Pionier war J. P. Seeburg

Als Schöpfer der eigentlichen Juke-Box gilt der Schwede J. P. Seeburg, der sich nach der Jahrhundertwende in Amerika niedergelassen hatte. Noch bedeutender aber wurde die Leistung eines anderen Amerika-Einwanderers: des Deutschen Rudolf Wurlitzer. Er brachte 1932 jenen Schallplattenautomaten in Massenauflage auf den Markt, der noch heute seinen Siegeszug um den Erdball fortsetzt.

Die Juke-Box - auch »Nickel-Odeon« genannt - befand sich vorübergehend in den Händen von Gangsterbossen und zog jahrelang die Geheime Bundespolizei Amerikas auf ihre krummen Fährten, doch sie schaffte es in wenigen Jahren, das Schallplattengeschäft wieder in die Höhe zu putschen.

Unseriöse Verleihverträgen genau wie beim Film

Das unfeine Aufdrängen von Verleihverträgen, die Anklage der US-Copyright-Gesellschaft - ASCAP wegen eines »Fünfhundert-Millionen-Diebstahls« waren zwar unangenehme Begleiterscheinungen, doch der Zweck schien damals die Mittel zu heiligen.

Gangster wie Al Capone kurbelten das Automatengeschäft an. Das Automatengeschäft kurbelte den Schlagerkonsum an. Und der Schlagerkonsum kurbelte das Schallplattengeschäft an.

1936 hatten sich die Juke-Boxen endgültig durchgesetzt. Und 1938 konnte Amerika schon wieder fünfunddreißig Millionen Schallplatten an den Mann bringen (wir erinnern uns: 1932 waren nur sechs Millionen Schallplatten umgesetzt worden).

1934 - Neue Firmen, neue Siege

Als Beweis dafür, daß der Optimismus der Phonobranche trotz aller kritischen Stürme nicht erlahmte, mag die Tatsache gelten, daß Mister Jack Kapp und andere Gesellschafter es im Jahre 1934 wagten, eine neue große Schallplattenfirma auf die Beine zu stellen. Die Decca Record Company in New York wurde als Tochtergesellschaft der englischen Decca gegründet.

1938 - CBS kauf die Columbia-Schallplatte

Im Dezember 1938 wurde eine weitere Finanzaktion gewagt, die für das Vertrauen sprach, das die amerikanische Industrie in die neue Aufwärtsentwicklung des Schallplattengeschäfts setzte. Die Sendegesellschaft Columbia Broadcasting System (CBS) kaufte für siebenhunderttausend Dollar die Kontrolle über die Columbia-Schallplatte (die damals im Konzern der American Record Company steckte).

Jawohl, es ging wieder aufwärts, und zwar mit Siebenmeilenstiefeln ! Diesmal allerdings nicht in der splendid isolation, mit der die Phonobranche sich bisher selbst geholfen hatte, sondern Schulter an Schulter mit den übrigen Industriegruppen des US-Entertainments.

Neue amerikanische All-round-Stars

Damit war zugleich ein großartiger Humus für die neuen amerikanischen All-round-Stars gegeben. Nennen wir stellvertretend für viele leuchtende Namen nur einen:

Jeanette MacDonald! Im Gegensatz zu vielen älteren Stars hatte Jeanette gleich drei große Entertainment-Gruppen zu ihrer Verfügung: Film, Rundfunk und Schallplatte. Als Tochter eines Häusermaklers aus Philadelphia startete sie schon als Vierzehnjährige ihre Karriere. Zunächst tillerte sie als Zwölfte von rechts in einer Girl-Truppe. Dann nahm sie Schauspiel- und Gesangsunterricht, und bald darauf stand sie sogar schon auf der Opernbühne. Als Prototyp einer jungen Amerikanerin jener Zeit addierte sie zum Kunst verstand den starken Willen und einen ausgeprägten Sinn für das Praktische.

Es leuchten die Sterne!

Höhepunkt ihrer Karriere war der Film »Maienzeit«. Ihr Partner war der blonde Nelson Eddy.
»Maienzeit« wurde über alle drei genannten Gruppen systematisch populär gemacht: Film, Funk und Schallplatte. Und genauso systematisch wie ihre Karriere war auch ihr Tagesplan organisiert.

Neun Uhr morgens: Erwachen. Dann Schwimmen, Frühstück, Posterledigung. Anschließend Gesangsunterricht (täglich zwei Stunden), Mittagessen, Schauspielunterricht. Und dann wieder Sport. Abends Parties zwecks Verbreiterung der Popularität und der Beziehungen. Punkt Mitternacht: Schlafengehen.

Amerika wurde ein Magnet für Stars

Aber auch für die Meister der Ernsten Muse wurde Amerika ein Starmagnet. Die Großen aller Länder gastierten in Amerika und gaben sich dort ein Stelldichein der Prominenten.

Einer dieser »Großen«, die zu Schallplattenaufnahmen in die Neue Welt geladen wurden, war Vladimir de Pachmann, der »Peter Pan des Pianos«. Er traf sich bei einem Lunch in New York mit den Kollegen Kreisler, Godowski und Arbos und hielt bei dieser Gelegenheit, vom Wein und vom jungen amerikanischen Ruhm erhitzt, folgende kurze Tischrede:
»Well, Freunde! Wenn ich euch so vor mir sehe, muß ich sagen, daß es im Grunde eigentlich nur vier große Musikerstars gibt.« Nach einer kleinenPause zählte er zögernd auf: »Ich - Godowski -«, dann schaute er die beiden anderen an und schloß kurz und trocken: »Bach - Beethoven!«

(19) DIE GRÖSSTE KÜNSTLERVERSAMMLUNG DER WELT
die "Electric & Musical Industries Ltd" = EMI

Unter dem Schatten der internationalen Wirtschaftskrise formte sich am 20. April 1931 in England der größte Schallplattenkonzern der Welt.

Die Gramophone Company und die englische Columbia Graphophone Company, vorher scharfe Konkurrenten auf dem Weltmarkt, verbanden sich mit einem Kapital von 6,2 Millionen Pfund zur "Electric & Musical Industries Ltd". (EMI)

Hayes in Middlesex, der ehrwürdige Hort des Hundes vor dem Trichtergrammophon, wurde zum Hauptquartier eines weltumspannenden Firmennetzes. Schallplattenfanatiker orten hier den »Mittelpunkt der Welt«.

Wie das zustande kam ?

Die englische Columbia hatte sich schon 1925 den Lindström-Konzern und 1928 die Pathe-Freres angegliedert. Zum EMI-Konzern gehörten nun die deutsche Electrola, die Londoner Marcophon und die Parlophon, die Pathe Belgique, die Transoceanic Amsterdam und die japanische Nipponophone.

Die Kette der ausländischen Niederlassungen zog sich von Europa über Indien, Australien und Neuseeland bis nach Südamerika.

Es ist ganz klar, daß dieser Konzern für die Künstler aller Welt zu einem Magnet ohnegleichen wurde. EMI bot in der Tat ein höchst verlockendes internationales Verkaufssystem. EMI-Verträge erlangten für zahlreiche Musiker den Rang von Lebensversicherungen.

EMI und ihre Tochtergesellschaften bieten noch heute eine geradezu erlauchte Künstlerversammlung. Einer dieser klingenden, weltweit berühmten Namen lautet Yehudi Menuhin.

Der Alte und der Junge

Im gleichen Jahr, da EMI sich gerade zum Monsterkonzern aufblähte, begann der Wunderknabe Menuhin sein berühmtes Fettgewicht abzuwerfen. Er wurde schmaler und wirkte bald darauf jünger denn je.

Fred Gaisberg, auch in den dreißiger Jahren noch Repertoire-Direktor der Gramophone, plante, zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Komponisten Sir Edward Elgar eine Luxusschallplatte aufzunehmen.

»Ich meine, der Knabe Menuhin sollte Ihr Violinkonzert spielen«, sagte er zu Sir Edward. »Der Altersunterschied ist attraktiv, und Menuhin wird es sicher schaffen, unter Ihrer Leitung zu musizieren.« Alsdann versprach er dem greisen Komponisten mit dem weißen Schnauzbart und dem immer geröteten Gesicht, daß er, Gaisberg, dafür sorgen wolle, daß sich der sechzehnjährige Geiger auch genau an die Instruktionen des Komponisten halten würde.

Die ersten dreißig Takte reichten bereits aus

Drei Tage vor der Aufnahme kam Menuhin in London an; er
hatte also nur noch wenig Zeit zum Proben. Nachdem er aber mit Ivor Newton am Klavier die ersten dreißig Takte gespielt hatte, winkte Sir Edward ab.
»Das genügt, Junge! Es kann überhaupt nicht besser sein. Komm mit zum Pferderennen. Herrje, es ist ein so schöner Tag, ich werde dir ein bißchen London zeigen. Einverstanden?«

Der Knabe Menuhin nickte artig mit dem Kopf und packte seine Prinz- Khevenhüller- Stradivari von 1733 ins Futteral. Dann ging er mit Sir Edward spazieren.

Im November 1932 in der St. Albert-Hall

Die Aufnahme fand am 30. November 1932 in der St. Albert-Hall statt. Die Königliche Familie war zugegen, ferner Englands Ministerpräsident und das gesamte Kabinett. Gaisberg schwitzte vor Aufregung.

Yehudi Menuhin aber spielte so großartig, so nobel und zurückhaltend, daß jeder merkte: er wollte dem Jubilar, dem fünfund-siebzigjährigen Sir Edward, die volle Ehre dieser Veranstaltung zukommen lassen.

Der Erfolg war so groß, daß Gaisberg eine Wiederholung dieses Ereignisses in Paris plante. Sir Edward aber schrieb an Moshe Menuhin, den Vater des jungen Geigers:
»Die Majestät von Yehudis Spiel hat mich überwältigt. Zwar bin ich zum geplanten Termin für Paris frei, bitte Sie aber, zu bedenken, ob es für Yehudis Position nicht ein Risiko ist, wenn er mit mir zusammen auftritt . . .«
Gaisberg staunte, als er von diesem allzu bescheidenen Brief hörte. Immerhin ist Edward Elgar für die englische Musik das, was Tschaikowsky für die Russen oder Cesar Franck für die Franzosen bedeutet.

Dieser Bambino kennt keine Fehler

Sir Edward war indessen nicht der einzige, der von Menuhins Geigenspiel begeistert war. »Er ist wie ein Weingarten auf dem Gipfel des Vesuv!« lobte sein Lehrer, der rumänische Geiger Georges Enesco. »Lieber Yehudi«, schrieb Albert Einstein, »heute hast du wieder einmal bewiesen, daß es einen Gott im Himmel gibt.«

Und Musikkritiker G. B. Shaw gab zu: »Yehudi kann mit seinem Spiel einen Atheisten zum Glauben bekehren.«

Als Arturo Toscanini den Knaben Menuhin im Musiksalon des Ozeanriesen »Isle de France« spielen hörte, schien er der glücklichste Mann an Bord zu sein. »Bravo, Yehudi! Bravo, bravissimo!« rief er fortwährend. »Oh, oh, wie wenig gute Musik kriege ich in meinem armen Leben zu hören. Spiel weiter, spiel weiter, Bambino!«
»Aber haben Sie denn gar keine Kritik für mich, Maestro Toscanini?«
»Kritik? Aber, aber, Bambino! Du weißt doch überhaupt gar nicht, wie Fehler gemacht werden!«

Ja, das sagte ein Dirigent, der eine berühmte Primadonna vierundsechzigmal eine Kadenz üben ließ, bis sie erschöpft umfiel.

Menuhin selber sagte später über sein Geigenspiel: »Wäre ich nicht Künstler geworden, so wäre ich heute wohl Ingenieur bei Ford oder Chrysler.« Er hat eine hydraulische Autobremse erfunden, auf die er mindestens ebenso stolz ist wie auf die Interpretation des Violinkonzerts von Sir Edward Elgar.

Die Platte machte sie berühmt

Nicht weniger prominent sind in der EMI-Künstlerversammlung die Vertreter der Leichten Muse.

Im März 1933 führte die Londoner Daily Express eine große Leserumfrage durch: »Welche berühmte englische Frau würden Sie als erste von einer sinkenden Jacht retten?«

Die größte Stimmenzahl erhielt damals die Sängerin Gracie Fields. Viertausendvierhundertsechsunddreißig Engländer waren bereit, sie aus dem Wasser zu ziehen.

Als nächste Dame folgte Lady Astor mit nur fünf hundert vierundfünfzig präsumtiven Rettern.

Am nächsten Tage erschien in einigen Zeitungen der robuste Anzeigentext: »Wenn so viele Leser ihr Leben daran setzen wollen, um Gracie zu retten - wie viele erst werden bereit sein, ihr Geld für eine Schallplatte zu opfern, auf der Gracie singt!«

August 1934 - Miliza Korjus

Im August 1934 erschien in Hayes, dem Rendezvous-Ort berühmtester Künstler, Miliza Korjus, die »nordische Nachtigall« - halb Schwedin, halb Russin, verheiratet mit einem deutschen Ingenieur.

Im geblümten Kleid, den weißen Hut in der Hand, stand die blonde zweiundzwanzigjährige Sängerin vor den Journalisten.
»Glauben Sie wirklich, daß die Engländer meine Platten hören wollen?« eröffnete sie selbst die Fragestunde mit einer Frage.
»Aber Ihre deutschen Platten sind hier längst bekannt«, antwortete jemand. »Der Frühlingsstimmenwalzer, das Hindulied, La Danza, der Kuß-Walzer . . .«
»Sie schmeicheln, meine Herren! Ich glaube nicht, daß ich so berühmt bin, wie Sie meinen«, sagte Miliza, und dann bat sie um Verzeihung, weil sie gerade in diesem Moment ans Telefon gerufen wurde.

Der Intendant der Berliner Staatsoper war am Apparat. Er bot ihr zehn hochbezahlte Gastspiele an . . .

Als Miliza ins Interview zurückkehrte, knüpfte sie mit ihren Worten dort an, wo sie geendet hatte: »Nein, ich glaube wirklich nicht, daß ich berühmt bin, meine Herren! Sehen Sie, ich hatte niemals Unterricht. Niemals in meinem Leben übte ich mit einem Lehrer. Mein Vater liebte Opern, und deshalb hatten wir eine große Plattensammlung. Ich hörte mir die Tetrazzini und Frieda Hempel an. Ich studierte ihren Gesang und lernte davon. Mein ganzes Geheimnis ist - das Grammophon!«

Die großen Namen vom Januar 1936

Die letzten beiden Beispiele sprechen für die Tatsache, wie sehr gerade die Schallplatte den Ruhm eines Künstlers mehrt - ob er es wahrhaben will oder nicht. Die Schallplatte dreht sich wie das Schwungrad eines Dynamos und lädt Ruhm für seine Künstler auf.

Hier eine EMI-Künstlerliste vom Januar 1936. Folgende
Namen galten damals als Bestseller :

  1. Benjamino Gigli
  2. Noel Coward
  3. Lily Pons
  4. Miliza Kor jus
  5. Jack Hylton
  6. Leopold Stokowski
  7. Die Tschechische Philharmonie
  8. Koussewitzki mit dem Boston-Orchester
  9. Edwin Fischer
  10. Fats Waller
  11. Eleanor Powell

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Wie man sieht, triumphierten in der Bestsellerliste von damals noch die Vertreter der ernsten Musik. Dieser Umstand sollte sich später grundlegend ändern.
.

April 1939 - Fred Gaisberg
Er war Adam und Eva zugleich

Am langen weißgedeckten Tisch, hinter Blumen und Gläsern, Früchten und Flaschen, saß der kleine, schmale Mann mit den kreisrunden und schwarzgerandeten Brillengläsern, dem kleinen grauen Bärtchen und dem schütteren Silberhaar. Er sah gewiß nicht wie ein Held aus. Doch er war der Held des Tages. Der Kalender zeigte den 21. April 1939 an.

Hundert Augenpaare lächelten den »Helden« an, als der Tischredner nun sagte: »Du bist unser aller Vater, Fred. Du hast uns gemacht. Seit genau fünfzig Jahren dienst du der Phonographie, und heute wollen wir dir sagen: du bist für die Gramophone-Geschichte Adam und Eva zugleich!«

Sie waren alle gekommen

Fred Gaisbergs Augen wurden in diesem Augenblick feucht. Zögernd sah er sich um. Wer war nicht alles nach London gekommen, um sein Jubiläum zu feiern! Da saßen Alfred Clark, sein Gramophone-Boss, und Albert Coates, der Assistent seiner hundert klingenden Abenteuer. Da waren Gracie Fields und Richard Tauber erschienen, Felix Weingartner und Bruno Walter, Louis Sterling, der geadelte Schallplattenpionier, und Mister Ogilvie, der neue BBC-Generaldirektor.

Da saßen die beiden großen Publizisten Christopher Stone und Compton Mackenzie, und in der Kristallschale lagen Telegramme von Ignaz Paderewski, Artur Schnabel, Elisabeth Schumann und vielen, vielen anderen Künstlern mehr. Die ganze singende, klingende Welt schien vertreten zu sein.

Und Fred Gaisberg erzählte

Man trank und sprach von alten Zeiten. Und Fred Gaisberg erzählte, schöpfte aus der unendlichen Fülle seiner Erinnerungen . . .

»Ja, Caruso - er war mit hundert Pfund für zehn Lieder nicht zu hoch bezahlt. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal sagen ... !«

Die Gäste lachten. Sie wußten alle, daß Künstler wie Fritz Kreisler später an die fünfzehntausend Pfund in einem Jahr allein an Plattenlizenzen verdienten.

»Caruso«, fuhr Gaisberg fort, »war die Antwort auf den Traum eines Schallplattenmannes. Eigentlich war er es, der unsere Branche groß gemacht hat. Er gab uns die Qualität. . .«

»Und Schaljapin?« wagte jemand zu fragen.
Gaisbergs Blick senkte sich. »Ich habe Fedor genau vor einem Jahr zum letztenmal gesehen. Es war in Paris. Er lag in seiner Wohnung in der Avenue d'Eylau, und eine fast endlose Kette von Menschen defilierte an seinem - Totenbett vorbei. Die vielen tausend russischen Emigranten hatten alle das Gefühl - Stenka Rasin sei gestorben . . .«

Ganz ruhig wurde es im Zimmer.

»Schaljapin ist tot, mein Herr«

»Die russische Kirche in der Rue Daru«, erzählte Gaisberg weiter, »war zu klein für alle diese Menschen, die Abschied nehmen wollten. Und bei seiner Totenmesse erlebte ich einen Chor, wie ich ihn mein Lebtag nicht gehört habe: zu den berühmten Mitgliedern der Afonski- und Aristoff-Sänger gesellten sich Stars wie Mosjukin, Kaidanoff, Borowski, Madame Davidow und die Smirnowa.

Die Mitglieder der Grand Opera, angeführt von Serge Lifar, schritten hinter seinem weißen Sarg durch die Boulevards. Neben mir ging der Prinz Zeretelli. Er sagte leise. »Schaljapin ist tot, mein Herr. Ich weiß nicht, ob Sie ihn gut gekannt haben ... aber ich sage Ihnen: es wird nie wieder so einen wie ihn geben, mein Herr ...«

Die Gäste wußten nicht, ob sie lächeln oder weinen sollten.

»>Was immer auch seine Fehler waren <, fuhr der Prinz an meiner Seite fort, >alles ist vergeben. Schaljapin war Rußland !< Und dann brach er in Tränen aus. Und ich - ich weinte auch.«

Die Leichten und die Schweren

Doch es wurden auch lustige Geschichten erzählt an diesem Abend, da Fred Gaisberg sein »Fünfzigstes« feierte.

»Weißt du noch, Gracie«, sagte Gaisberg zu der hübschen dunkelhaarigen Gracie Fields. »Eines Abends kam ich mit einer berühmten Primadonna ins Londoner Coliseum: mit Luisa Tetrazzini! Als sie auf dem eisernen Vorhang neben vielen anderen prominenten Gesichtern auch ihr Konterfei entdeckte, war sie bereits für die Vorstellung gewonnen. Und als dieser Eiserne sich hob - nun, wen sah sie da?«
»Mich!« lachte die Fields. »Ich hockte als Scheuerfrau auf den Knien und schrubbte die Bühnenbretter. Und dabei sagte ich: >Hach, ich möchte auch mal Opernheldin werden - da brauche ich mich nicht mehr zu bücken. Einmal die Tetrazzini sein! <«

»So war es!« Gaisberg nickte mit dem Kopf. »Und hinterher habe ich die Leichte und die Schwere Muse miteinander bekannt gemacht. Sie haben hinter der Bühne Freundschaft geschlossen: Gracie und Luisa!«

Flöten müßte man können!

Ja - die Leichten und die Schweren: alle gehören sie zur großen Schallplatterifamilie. Sie retten sich gegenseitig. Die einen bringen die Reputation, die anderen das Geld . . .

»Vor Jahren saß ich auf einer Dinner-Party«, berichtete Gaisberg, »zwischen Sir Thomas Beecham und einem New Yorker Schlagerverleger. Der Verleger pries seine jungen tollen Komponisten. Zugegeben, sagte er, nicht alle von ihnen können Noten lesen. Aber die Jungs können ihre Einfälle flöten, und wir haben dann schon unsere Leute, die das aufschreiben. Auf alle Fälle machen wir Millionen damit . . .«
»Und was antwortete Sir Thomas?«
»Er sagte: Flöten müßte man können!«

Das Ende einer Epoche?

Herrliche Geschichten wußte Gaisberg zu erzählen.
»Szigeti war immer sehr nervös, wenn er im Schallplattenstudio war. Dann vergaß er immer, ob er Männchen oder Weibchen war. Casals dagegen war geradezu phlegmatisch. Ich hab's mal erlebt, daß ihm mitten bei einer Aufnahme die D-Saite riß. >Peng!< sagte es. Der einzige, der nicht erschrak, war Casals. Seelenruhig fügte er die beiden Enden der Saite mit einem in Barcelona erlernten Schifferknoten wieder zusammen. Dann brachte er seine Krummpfeife erneut in Brand und säbelte seine Brahms-Sonate dort weiter, wo er sie unterbrochen hatte.«

Die Geschichte vom Orchesterbändiger

Anschließend erzählte Gaisberg von dem »Orchesterbändiger« Dr. Furtwängler, den er in der Potsdamer Fasanerie besucht hatte. »Mit dem Auto hatte der Doktor nur zwanzig Minuten bis zum Berliner Beethoven-Saal zu fahren - aber das schaffte er im full-speed! Wissen Sie, ich habe viele Orchesterproben in meinem Leben mitgemacht. Häufig hörte ich, daß die Musiker hinterher von ihrem Dirigenten sagten: Der schafft es erst dann, wenn das Orchester ihn beherrscht!«
»Und wie war's bei Furtwängler?«
»Bei dem Doktor merkten die Musiker sofort: Wir schaffen es erst dann, wenn wir uns von ihm beherrschen lassen.«
Es war eine große Zeit, die Gaisberg an diesem Tisch mit seinen kleinen Anekdoten beschwor. Und jeder seiner Zuhörer fühlte, daß dieser Jubiläums-Abend eigentlich eine Epoche beschloß.

Was steht am Horizont ? Wie geht es weiter . . . ?
Der spitzbärtige Novellist Compton Mackenzie hielt die Schlußrede. Sie war sehr kurz. Er sagte:
»Fred - in dieser streitsüchtigen Zeit wollen wir dir die Ehre erweisen und dir sagen: du bist - im wahrsten Sinne des Wortes - international!«
Vier Monate später brach der zweite Weltkrieg aus.

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