»AUCH NICHT EINE NOTE WERDE ICH ÄNDERN«
Am Petersburger Konservatorium studierte Tschaikowsky Komposition bei N. I. Zaremba, einem ganz der Tradition verpflichteten Meister der alten Schule, der dem angehenden Musiker bereits vor seinem Eintritt ins Konservatorium Privatunterricht in Musiktheorie erteilt hatte.
Ab September 1863 besuchte er noch zusätzlich die Orchesterklasse Anton Rubinsteins. Ihn hat Tschaikowsky trotz seiner altmodischen, zopfigen Gelehrsamkeit sehr verehrt. Das von Rubinstein gepriesene und bewunderte Orchester war noch das Mendelssohns oder, mit anderen Worten, das durch Posaune und chromatische Hörner (anstelle der natürlichen) erweiterte Orchester Beethovens.
Tschaikowsky ließ sich jedoch von seinem Lehrer nicht irre machen. Als er 1864 dem Konservatorium eine eigene Komposition als Jahresarbeit vorlegen mußte, schrieb er eine Schauspielmusik zu Alexander Ostrowskis »Das Gewitter« (posthum als op. 76 veröffentlicht) und benutzte dabei unbefangen von Rubinstein verpönte Instrumente wie Englischhorn, Harfe oder Tuba. Natürlich war er klug genug, die Partitur seinem Lehrer nicht persönlich vorzulegen.
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1874 - Tschaikowsky und Anton Rubinsteins Bruder
Auch die Bindung Tschaikowskys zu Anton Rubinsteins Bruder blieb nicht ohne Spannung. Ja, zehn Jahre nach seinen Studien in Petersburg wurde Tschaikowsky von Nicolai Rubinstein in einer Weise verletzt, die die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Musikern ernsthaft in Frage stellte.
Es geschah am Weihnachtsabend des Jahres 1874. Tschaikowsky war bei Nicolai Rubinstein eingeladen, um sein soeben vollendetes Klavierkonzert Nr. 1 vorzuspielen.
Der Komponist hat den Verlauf des Abends selbst geschildert: »Ich spielte den ersten Satz. Nicht ein Wort, nicht eine einzige kleine Bemerkung folgte ... Oh, wenn es nur ein Wort, ein kleiner freundschaftlicher Tadel gewesen wäre! ... Ich begehrte ein Urteil nicht über den künstlerischen Wert meiner Arbeit, sondern über seine klaviertechnische Ausführung. Das Schweigen Rubinsteins war beredt ... Ich wappnete mich mit Geduld und spielte mein Konzert zu Ende. Wieder Schweigen!
,Nun?' fragte ich und erhob mich vom Flügel. Und jetzt endlich ergoß sich von Rubinsteins Lippen ein wahrer Wasserfall: freundlich noch zu Beginn, steigerte er sich bald zum Wutanfall eines fürchterlich grollenden Donnergottes.
Mein Konzert sei verachtenswert, einfach unspielbar und voller wirrer, zusammengestückelter und linkisch gesetzter Passagen ...; das Werk sei schlecht, platt und gewöhnlich, und zudem hätte ich noch hier und da von anderen gestohlen; nur ein paar Seiten seien wenigstens von einigem Wert, bei dem großen Rest sei es dagegen besser, ihn entweder vollständig zu vernichten oder aber von Grund auf neu zu gestalten ...
Und das Wichtigste, nämlich den Ton, in dem das alles vorgebracht wurde, vermag ich noch nicht einmal wiederzugeben.
Ein unvoreingenommener Beobachter der Szene hätte annehmen müssen, ich sei ein völlig talentloser Tölpel, irgendein Federfuchser ohne alle kompositorischen Kenntnisse, der den frevelhaften Mut besessen habe, seinen Kehricht vor ein Genie zu tragen ...
Das war eine Verurteilung in einer Form, die mich tödlich verletzen mußte. Ich verließ das Zimmer ohne ein Wort und ging nach oben ... Wenig später kam Rubinstein mir nach, und da er sah, wie verstört und erregt ich war, bat er mich in ein abgelegenes Zimmer.
Dort wiederholte er noch einmal, mein Konzert sei unmöglich, wies mich auf zahlreiche Partien hin, die völlig umgearbeitet werden müßten, und schloß endlich mit dem Angebot, er wolle mein Konzert, wenn ich es nach seinen Ratschlägen umgeformt hätte, selber spielen.«
Tschaikowskys Antwort war eindeutig: »Auch nicht eine Note werde ich ändern; meine Komposition wird so veröffentlicht, wie sie jetzt ist...«
Die Verstimmung zwischen Tschaikowsky und Nicolai Rubinstein, die dem verunglückten Weihnachtsabend folgte, dauerte allerdings nicht lange. Rubinstein änderte seine Meinung über Tschaikowskys Komposition bald. Im Rahmen der russischen Konzertdarbietungen auf der Pariser Weltausstellung 1878 spielte er sogar das Werk seines Landsmannes und Freundes auf brillante und virtuose Weise.
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ZUR SCHALLPLATTE (Band Nr.1 - Platte Nr.1)
Peter Iljitsch Tschaikowsky, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1, b-moll,op. 23 (1874/75)
1. Satz: Allegro non troppo e molto maestoso - Allegro con spirito
2. Satz: Andantino semplice - Prestissimo - Primo Tempo (Andantino)
3. Satz: Allegro con fuoco
Svjatoslav Richter, Klavier Leningrader Philharmonie; Dirigent: Jewgenij Mrawinskij (Vox PL 16220) Spieldauer: 34 Minuten
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Die hervorstechendsten Eigenschaften des Klavierkonzertes
Gewaltig, majestätisch, feierlich und unmittelbar eingängig - das sind die hervorstechendsten Eigenschaften der berühmten Eröffnung des Klavierkonzertes Nr. 1 von Peter Tschaikowsky, das wohl zu den volkstümlichsten Werken der sogenannten klassischen Musik gehört und das, gerade deshalb, die fragwürdigsten Bearbeitungen und Übertragungen hat erdulden müssen.
Als Tschaikowsky 1874 die Einleitung seines Konzertes schrieb, hatte seine künstlerische Karriere soeben begonnen. Und dennoch sind schon diese wenig mehr als hundert Takte für den Geschmack und für die Persönlichkeit ihres Schöpfers typisch.
Der Inspiration Tschaikowskys liegen zwei höchst verschiedene, wenn nicht gar gegensätzliche Impulse zugrunde. Zum einen eine eher überpersönliche Erfindungsweise, die zum Heiter-Elegischen und zum Volkstümlich-Leichten neigt, zum anderen der ganz ich-bezogene, überschwengliche Ausbruch, das bis zum Exzeß und bis zur Verstümmelung der eigenen Person geführte Selbstbekenntnis.
Zwar leben diese grundverschiedenen schöpferischen Impulse Tschaikowskys oft genug in ein und demselben Werk nebeneinander; darüber hinaus charakterisieren sie aber auch zwei deutlich zu unterscheidende Werkgruppen. In der ersten Gruppe herrscht das heiter-volkstümliche Element, das in der zweiten Gruppe weitgehend verdrängt, allerdings nie vollständig aufgehoben wird. So gehören etwa die Ballettmusiken zur ersten Gruppe, unstreitig der glücklichste künstlerische Ausdruck, der Tschaikowsky je gelungen ist.
Das frühe Klavierkonzert in b-moll eröffnet dagegen, vornehmlich mit dem 1. Satz, im Schaffen Peter Tschaikowskys die Reihe der vorherrschend expressiven Werke.
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Ein überschwenglich-expressiver Stil ?
Worum handelt es sich bei diesem überschwenglich-expressiven Stil? Im Vordergrund steht die Melodie, die einerseits von einer so verführerischen Leichtigkeit ist, daß sie eine ständige Einladung an das Publikum darstellt, sich im Meer ihrer unmittelbar eingängigen Motive zu verlieren, die andererseits aber auch getragen wird von einer pathetischen, im Selbstmitleid des Komponisten wurzelnden Melancholie.
Eine Melodie mithin, süß und selbstquälerisch zugleich.
In den so gearteten Themen scheint ihr Schöpfer selbst gegenwärtig, um uns ohne jede Zurückhaltung seine Lebensangst zu gestehen. Hier ist eine schöne Seele - so will er uns wohl sagen - , aber das Schicksal, das Verhängnis, die Schändlichkeiten der Welt, ja die Wirklichkeit des Lebens überhaupt drücken sie zu Boden, hindern sie an ihrem Flug zum Licht.
Mit diesem Gegensatz wird ein neues Element in der Musik Tschaikowskys sichtbar: der dramatische Kontrast einer gedeckten, fast düsteren Farbgebung, die von Schmerz und Verzicht wieder erstickten Zeichen eines kurzen Aufbegehrens. Hier erscheint in Tschaikowskys Musik ein tiefer und gärender sinfonischer Stil, der sich merkbar von dem der melodischen Partien abhebt.
Das, was an dieser Kontrastierung allerdings ebensowenig wie etwa in den Sinfonien Mendelssohns befriedigt, ist die stilistische Unvereinbarkeit ihrer beiden Ausdrucksebenen.
Die erste Ebene, die der Melodie, ist süß, schmeichlerisch, bestenfalls melancholisch; die zweite, die der Sinfonie, heftig und impulsiv. Die eine führt an die Grenze zur »leichten« Musik; die andere ins Reich der »gelehrten« Musik, in die Nähe der traditionellen Sinfonik, ja sogar in die Beethovens.
Tatsächlich ist der dramatische Gegensatz im sinfonischen Stil Tschaikowskys demjenigen Beethovens sehr ähnlich. Nur handelt es sich nun um einen Beethoven, der nicht nur dem Geschmack und der Mentalität der eleganten russischen Salons in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angepaßt, sondern zudem nachgerade in sein Gegenteil verkehrt ist.
Auch bei Beethoven kämpft der Mensch gegen das Schicksal und gegen die Herbheiten des Lebens. Dort sind es aber eben diese Herbheiten, die ihn überhaupt erst zum Menschen machen, ihn veredeln, ihn erheben und ihn um die Erfahrungen eines heroisch geführten und siegreich beendeten Kampfes bereichern.
Bei Tschaikowsky geschieht indes genau das Gegenteil. Hier gibt es zu Beginn eine edle Seele, einen erhabenen Geist, den dann die Schwierigkeiten des Lebens niederdrücken und zerstören. Zum Schluß bleibt nichts als tiefe Enttäuschung und Resignation, eine romantisch-subjektive Selbstbespiegelung des eigenen Falls.
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Inwieweit ist Tschaikowsky aufrichtig ?
Bei alldem bleibt nur eine Frage: Inwieweit ist Tschaikowsky aufrichtig? John Scrymgeour hat zu einer Plattenaufnahme des Klavierkonzertes Nr. 1 von Tschaikowsky geschrieben:
»Gewiß, das ist chaotisch, wirr und manchmal sogar ein wenig anmaßend. Aber es ist auch ehrlich! Von der Ehrlichkeit eines Kindes.« Das ist sicher die genau richtige Antwort auf unsere Frage.
Wie ein Kind kann Tschaikowsky zugleich tief ehrlich und tief verlogen sein. Denn, ohne sich dessen auch nur bewußt zu sein, geht seinem künstlerischen Instinkt die Möglichkeit ab, sich verstandesmäßig zu kontrollieren. Die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst fehlt Tschaikowsky, dem Menschen wie dem Künstler. Seine musikalische Sprache gleicht dem unkontrollierten Redefluß und kennt dessen Höhen und Tiefen, dessen Widersprüche und nicht zuletzt dessen Gefahr eines Abgleitens in redselige Geschwätzigkeit.
Insgesamt vermittelt diese musikalische Sprache aber dennoch ein echtes menschliches Porträt. Das Gemälde eines vielleicht nicht immer ansprechenden Menschen; aber immerhin ein Gemälde voller Farbenpracht und Wahrhaftigkeit.
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Ein Blick auf das Klavierkonzert op. 23
Diese ausführliche Vorbemerkung, die Gültigkeit besitzt für das musikalische Werk Tschaikowskys insgesamt, mag auch die Beschäftigung mit dem Klavierkonzert op. 23 erleichtern.
Das berühmte Eröffnungsthema bleibt ausschließlich auf die Introduktion (Allegro non troppo e molto maestoso) beschränkt. Hier erscheint es insgesamt dreimal.
Zunächst wird es, nach einer kurzen motivischen Ankündigung durch die Hörner, von den 1.Violinen und den Celli vorgetragen und von dem Soloinstrument akkordisch umspielt. Darauf übernimmt es der Solist selber, um es gleich virtuos auszuweiten und zu steigern.
Und schließlich vereinigen sich alle Streicher, um es noch einmal zu präsentieren, während sich das Klavier wiederum in akkordische und rhythmische Paraphrasen verliert. Nach dem letzten Vortrag des Eröffnungsthemas mündet die Introduktion in eine Trauerfanfare der Blechbläser, die auf eine düstere Wende hinzuweisen scheint. Stattdessen führt sie jedoch zu dem eher tänzerischen Hauptthema des Allegro con spirito.
Das motivische Material dieses Allegro con spirito besteht aus einem Hauptthema und zwei Seitenthemen. Das tänzerische, fast ein wenig gezierte Hauptthema in b-moll wird gleich zu Beginn vom Klavier vorgetragen, und in ihm entfaltet Tschaikowsky nicht nur den ganzen gesellschaftlichen Charme seiner Musik, sondern macht auch von allen traditionellen Mitteln virtuoser Klaviermusik reichen Gebrauch.
Das wenig später erscheinende, sehr ausdrucksstarke und weiche 1. Seitenthema wird kurz von den Bläsern angekündigt, um dann sofort von dem Soloinstrument übernommen, entwickelt und ausgestaltet zu werden. Das lebhaftere und durch interessante rhythmische Verschiebungen charakterisierte 2. Seitenthema bleibt demgegenüber dem Orchester (und hier vor allem den 1. Violinen) vorbehalten. Im weiteren Verlauf des Satzes wird dieses motivische Material reich ausgesponnen und einander gegenübergestellt, nicht zuletzt in den ausführlichen und ausladenden Kadenzen des Solisten.
Die beiden folgenden Sätze sind von ganz anderer Art. Wenn sie auch insgesamt den sinfonischen und konzertant-virtuosen Stil des ersten Satzes beibehalten, so stellen sie doch bis zu einem gewissen Grade Zeugnisse für den mehr volkstümlichen Tschaikowsky dar.
In Aufbau wie in musikalischer Erfindung besonders gelungen ist das Andantino semplice, das mit seinem leicht eingängigen Thema und dessen wunderschöner Verarbeitung ein glückliches Beispiel für die frische, volkstümliche Schreibweise Tschaikowskys ist. Der Mittelteil des 2. Satzes bringt eine überraschende Wendung. Das Thema des Andantino erscheint als huschendes Prestissimo fast als gespenstische Parodie seiner selbst, bevor es wieder zur Ruhe des ersten Zeitmaßes zurückkehrt (Primo tempo).
Der Schlußsatz (Allegro con fuoco) ist auf dem brillanten Rhythmus eines Volkstanzes aufgebaut und steckt voller bemerkenswerter rhythmischer Einfälle. Der Schluß des Konzertes ist so von einem ausgesprochen fröhlich-festlichen Charakter, der der feierlichen Pathetik des Beginns nachgerade entgegengesetzt ist.
Das mit Ausnahme des durchsichtigen und klaren Andantino im ganzen ausgesprochen massiv und noch etwas unbeholfen behandelte Orchester ist neben dem Soloinstrument und den Streichern mit zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotten, vier Hörnern, zwei Trompeten, drei Posaunen und Pauken besetzt.
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Dem deutschen Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow gewidmet
Ursprünglich sollte das Konzert dem Direktor des Konservatoriums zu Moskau, Nicolai Rubinstein, zugeeignet werden. Nach dem enttäuschenden Verlauf der Vorführung des Konzertes im Hause Rubinstein (vgl. Seite 9) gab der gekränkte Tschaikowsky diesen Plan jedoch wieder auf und widmete sein Werk dem deutschen Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow.
Tschaikowskys berühmtes Klavierkonzert Nr. 1 hat die bedeutendsten Pianisten in seinen Bann gezogen, nicht zuletzt auch den russischen Virtuosen Svjatoslav Richter. Richter, der vor seinen großen Gastspielreisen Ende der 19fünfziger Jahre im Westen fast unbekannt war, gilt heute allenthalben als der technisch brillanteste Pianist der Welt.
Seine künstlerische Entwicklung ging vom stark virtuos betonten Spiel aus, wandelte sich aber in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zu einer auch geistig tief durchdachten Interpretation. Zu den bevorzugten Komponisten Richters zählen Liszt, Chopin, Schumann, Brahms, Rachmaninow, Prokofjew und ganz besonders auch Tschaikowsky.
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