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DIE GROSSEN MUSIKER Nr.4
PETER ILJITSCH TSCHAIKOWSKY • Band IV

INHALT  
A Text- und Bildteil:  
Die seltsamen Wege einer geheimnisvollen Liebe Seite 37
Ein Trio für Nicolai Rubinstein Seite 40
Als Dirigent durch die Welt Seite 44
Zur Schallplatte Seite 46
B Die Langspielplatte:  
Italienisches Capriccio op. 45  
Nußknacker-Suite op. 71a  

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Die grossen Musiker - Einführung Teil 4

Die neue Musikzeitschrift aus dem Bastei-Verlag • Mit Langspielplatte • © 1966 für alle Länder Fabbri, Mailand • Deutsche Lizenzausgabe 1967 des Originaltitels »I Grandi Musicisti« • Alle Rechte der deutschen Ausgabe und der deutschen Texte: Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, 507 Bergisch Gladbach • Redaktion: Günther Jäkel und Leo Karl Gerhartz • Musikwissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Günther Massenkeil,Bonn,und Privatdozent Dr. Klaus Wolf gang Niemöller, Köln • Übersetzung: Leo Karl Gerhartz • Herstellung: Horst Scholz • Satz: Druckerei Gustav Lübbe • Druck: Fratelli Fabbri, Mailand • Printed in Italy.

Das Titelbild zeigt Helga Held als Zuckerfee in Tschaikowskys Ballett Der Nußknacker (Foto Stefan Odry, Köln).
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Die diesem Band beigefügte Langspielplatte bringt die ungekürzte Aufnahme von Peter Iljitsch Tschaikowsky

  1. ITALIENISCHES CAPRICCIO FÜR ORCHESTER, OP.45
  2. DIE NUSSKNACKER-SUITE, OP./ia


Es spielen das Orchester der Volksoper Wien unter der Leitung von Edouard van Remoortel und das Berliner Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Walter Jürgens - Spieldauer: 37 Minuten - 5 DM - Die Langspielplatte von hervorragender Wiedergabequalität kann auf Mono- und Stereogeräten mit 33 1/3 Upm abgespielt werden.
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DIE SELTSAMEN WEGE EINER GEHEIMNISVOLLEN LIEBE

Nachdem Peter Iljitsch Tschaikowsky im Jahre 1878 von seiner ersten Reise durch Europa heimgekehrt war, zog er zunächst zu seiner Schwester Alexandra, die mit ihrer Familie in Kamenka lebte. Nur wenige Kilometer von Kamenka entfernt lag Brailow, ein weitläufiges Landgut der Frau von Meck. Nadjeshda von Meck hatte allerdings nicht die Absicht, diese Nachbarschaft zu einer persönlichen Begegnung mit ihrem Briefpartner zu nutzen. Sie mied vielmehr Brailow ganz bewußt, solange Tschaikowsky in Kamenka wohnte.

Aus der Entfernung spürte der Musiker jedoch das gütige Walten seiner Gönnerin mehr und mehr. Antonina Nicolajewna, Tschaikowskys unglückselige Gattin, bedrängte den Komponisten immer noch. Nach wie vor war sie fest und bis zum Wahnsinn davon überzeugt, daß ihr Mann zwar eine unglückliche, dennoch aber tiefe Zuneigung für sie empfinde.

Bis zu dem Tage, an dem sich die Tore einer Nervenheilanstalt hinter der kranken Antonina schlössen, gab sie die Versuche zur Wiederherstellung ihrer Ehe nicht auf. Durch eine Schenkung von 10 000 Rubel an Antonina Nicolajewna ersparte Frau von Meck dem Freunde wenigstens die ärgsten Belästigungen und Aufregungen.

Auch nach der Rückkehr Tschaikowskys ans Moskauer Konservatorium half Nadjeshda. Von Beginn seiner Tätigkeit an sehnte sich der Musiker nach Freiheit und Unabhängigkeit. Um sich in Einsamkeit ganz auf seine schöpferische Arbeit konzentrieren zu können, wollte er sich der nur mit Widerwillen erfüllten Lehrverpflichtungen so rasch wie möglich wieder entledigen.

Ohne einen kräftigen Zuschuß aus dem Vermögen Frau von Mecks war dieser Wunsch natürlich nicht zu verwirklichen. Tschaikowskys Tätigkeit als Musikprofessor blieb durchaus nicht ohne sichtbare äußere Erfolge. Man bot dem Komponisten sogar einen Lehrstuhl am Konservatorium in Petersburg an, der noch bedeutender und angesehener war als derjenige, den er in Moskau innehatte.

Im Grunde war er jedoch nicht fähig, unbefangen in der Öffentlichkeit zu leben und zu wirken. Es gelang ihm einfach nicht, die mondänen Nebenerscheinungen seines Berufes gelassen und mit Abstand zu ertragen. Meinungskämpfe in Fragen der Kunst machten ihn unsicher.

All die kleinen Sticheleien und Belästigungen, die prominente Persönlichkeiten zwangsläufig umgeben, beängstigten, verwirrten und erregten ihn. Ja, die ein wenig krankhafte Überfeinerung, die Tschaikowskys Kunst von Anfang an kennzeichnet, erfaßte nach der Ehekatastrophe in zunehmendem Maße auch seinen Charakter.
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Eifersucht und Berufsneid zwischen Tschaikowsky und seinen Kollegen

So kam es schon wenige Monate nach der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am Konservatorium in Moskau beinahe zwangsläufig zu ernsten Spannungen zwischen Tschaikowsky und seinen Kollegen. Sicherlich gab es hierfür unter anderem sachliche Gründe. Auch Eifersucht und Berufsneid mögen eine gewisse Rolle gespielt Haben.

Entscheidend war aber wohl, daß Tschaikowskys überempfindliche und leicht reizbare Wesensart ein normales und natürliches Zusammenleben außerordentlich erschwerte. Seine ständige Unsicherheit über den Wert der eigenen Kompositionen machte ihn geradezu gierig auf Lob. Die Kollegen konnten ihn aber schließlich nicht immer und nur begeistert feiern.

Ohne Frage war es Tschaikowskys Wunschziel, all seine Zeit dem Komponieren widmen zu können. Ein zurückgezogenes Leben war eine unentbehrliche Voraussetzung für sein Schöpfertum. In der fast krankhaften Sucht des Künstlers, jeder offiziellen Aufgabe auszuweichen, verbirgt sich jedoch zugleich eine gewisse Furcht, vielleicht vor der Welt nicht zu bestehen. Die bloße Möglichkeit, von der Öffentlichkeit nicht anerkannt zu werden, bewog ihn bereits, sich ihr lieber gar nicht erst zu stellen.
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Diese verständnisvolle Hilfe von Nadjeshda Philoretowna

Nur in den privaten Geständnissen an die Vertraute Nadjeshda von Meck ist er von rückhaltloser Offenheit. Die Einladung dagegen, sein Land während der Konzertveranstaltungen auf der Pariser Weltausstellung zu vertreten, lehnt er ebenso entschieden wie energisch ab.

Tschaikowsky fürchtete sich überhaupt vor jedem Zusammentreffen mit fremden Menschen. Leo Tolstoi trat er voller Angst gegenüber. Ein Treffen mit Turgenjew verhinderte er von vornherein: »Nur der Himmel weiß, was ich gelitten habe. Wenn ich jetzt heiter bin, so nur deshalb, weil ich in Frieden auf dem Lande lebe. Ich habe hier keinerlei gesellschaftliche Verpflichtungen und bin nur mit Menschen zusammen, vor denen ich mich so geben darf, wie ich bin. Nie habe ich mich darum bemüht, irgendeine berühmte Persönlichkeit kennenzulernen. Ich weiß, daß Turgenjew sich sehr für meine Musik interessiert ...

Ein Besuch bei ihm könnte für mich unter Umständen sogar von Vorteil sein. Aber ich weiß heute und habe mich damit abgefunden, daß solche Zusammenkünfte mir nur schaden... Um so was darf ich mich nicht kümmern.«
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Tschaikowsky war menschenscheu geworden

Auch Tschaikowskys inniger Wunsch, die Stelle am Konservatorium endgültig aufzugeben, hat seine eigentliche Wurzel in seiner tiefen Abneigung, sich täglich in einer fremden, gleichgültigen oder gar feindlichen Umwelt behaupten oder verteidigen zu müssen. Die einzige Möglichkeit, den lästigen Aufgaben des Lehrberufs und den Verpflichtungen eines Lebens in der Öffentlichkeit zu entkommen, war finanzielle Unterstützung durch Frau von Meck.

So klagte denn Tschaikowsky der Freundin sein Leid, und Nadjeshda verstand und half sofort. Sie bot dem Musiker einen beträchtlichen Monatswechsel an, der es ihm erlaubte, nur noch seiner schöpferischen Arbeit zu leben. Die Dankbarkeit des Musikers kannte keine Grenzen.

Diese verständnisvolle Hilfe vertiefte die Bande zwischen Peter Iljitsch und Nadjeshda Philoretowna zusehends. Frau von Meck steigerte sich immer mehr in die selbsterfundene Rolle einer geheimnisvollen, unsichtbaren Wohltäterin.

Stets suchte sie neue Wege, ihre Beziehung zu dem fernen Geliebten noch enger zu gestalten. So lud sie Tschaikowsky ein, während ihrer Abwesenheit auf ihrem Landgut Brailow zu wohnen. Einen ihrer Söhne verheiratete sie mit einer Nichte des Komponisten. Aber auch die wirtschaftlichen Wohltaten Nadjeshdas nahmen immer großzügigere Formen an.

Frau von Meck ermöglichte »ihrem« Künstler nicht nur die Freiheit vom Lehrberuf, sie gab ihm auch die Mittel zu weiten und ausgedehnten Reisen. Der allgemeinen Menschenscheu entspricht bei Tschaikowsky ein ausgeprägter Drang nach einem ständigen Wechsel des Aufenthaltsortes. Der ebenso unruhige wie ungeduldige Musiker hielt es nirgends lange aus. Frau von Mecks Gelder erlaubten es ihm, in Rußland wie in Europa von Stadt zu Stadt zu ziehen.
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Die »Briefliebenden«

Einige Male reisten die »Briefliebenden« sogar zur gleichen Zeit zum gleichen Ziel - aber immer in sorgsam gehüteter Entfernung. Es war geradezu ein Lieblingswunsch Nadjeshdas, in unmittelbarer Nachbarschaft Tschaikowskys zu leben: »Ich werde den Winter wohl auch im Ausland verbringen. Lassen Sie sich irgendwo in meiner Nähe nieder, lieber Freund; wie sehr mich das beglücken würde! Kommen Sie zum Corner See, da ist es wunderschön. Wie herrlich wäre es, wenn wir beide dort wohnen würden, nur einen oder zwei Kilometer voneinander getrennt, oder auf den einander gegenüberliegenden Ufern des Sees!«

Hat es jemals ein seltsameres Bündnis gegeben? Oft haben sich Menschen brieflich lieben gelernt. Aber wann sonst hatten sie das Bedürfnis, sich ein Liebesnest zu bauen, in dem einige Kilometer den einen von dem anderen trennen?

Im Herbst 1878 mietete Nadjeshda am Rande von Florenz für sich und für Tschaikowsky zwei Villen. Beide lebten hier zur selben Zeit. In der Hauptstadt der Toskana kam es sogar zu einer wirklichen Begegnung. Plötzlich und zufällig standen sich Peter und Nadjeshda in einer Straße von Florenz gegenüber. Zu einem Gespräch konnten sie sich aber nicht aufraffen. Tschaikowsky erregte das Zusammentreffen derart, daß ihm nicht einmal der Gedanke kam, sich die Gesichtszüge der sonst immer fernen Freundin einzuprägen.

Dazu hatte er dann allerdings wenig später Gelegenheit.Während einer Theateraufführung in Florenz, die Frau von Meck in einer Loge verfolgte, konnte Tschaikowsky seine Wohltäterin vom Parkett aus mit Hilfe eines Opernglases ausgiebig beobachten.

Verfolgt man die eigenartige Freundschaft zwischen Peter Tschaikowsky und Nadjeshda von Meck, so stellt sich unwillkürlich die Frage: Wie ernst war ihnen das gekünstelte »Spiel« ihrer Beziehungen? Nun, bei Tschaikowsky mischten sich ohne Frage echtes Engagement mit Ironie, Sympathie mit verständnisvollem Entgegenkommen, Zuneigung mit Nützlichkeitserwägungen. Frau von Meck war demgegenüber zumindest für eine gewisse Zeit geradezu besessen von ihrer Idee einer »romantischen« Liebe, die im »reinen Gefühl« und im bewußten Sich-Versagen Erfüllung suchte.
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Die Gipfelpunkte der »Briefliebe«

Es mag sein, daß ein Mann, der sich unbefangen über den vereinbarten Verzicht auf jede persönliche Begegnung hinweggesetzt hätte, Nadjeshda sehr schnell hätte heilen können.

Da aber Tschaikowsky aus vielerlei Gründen nichts unternahm, die Freundin von ihren Vorstellungen abzubringen, mußte sie sich fast zwangsläufig immer mehr in diese Vorstellungen hineinsteigern.

Dabei handelt es sich bei Frau von Mecks Gefühl durchaus um eine wirkliche, wenn auch romantisch überspannte Leidenschaft. So scheint es wenigstens, liest man folgenden Brief:

»Der Gedanke, daß diese Frau (gemeint ist Tschaikowskys Ehefrau Antonina Nicolajewna) Ihnen nahe gewesen ist, war und ist mir unerträglich. Ich will Ihnen meine Bösartigkeit gestehen: Die Tatsache, daß Sie an der Seite Ihrer Frau nicht glücklich waren, hat mich sogar gefreut. Ich glaube, ich habe diese meine Gefühle immer vor Ihnen verborgen. Sie zu besiegen, war mir allerdings ganz und gar unmöglich. Ich haßte diese Frau, weil sie Sie unglücklich machte. Weit mehr noch hätte ich sie gehaßt, hätte sie Sie glücklich gemacht. Peter Iljitsch, ich liebe Sie... Über alle Dinge der Welt sind Sie mir teuer.«

Dieses unverhohlene Geständnis und die »gemeinsame« Reise nach Florenz sind die Gipfelpunkte der »Briefliebe« zwischen Tschaikowsky und Frau von Meck. Seit 1880 werden die Beziehungen dagegen spürbar schwächer. Die Gefühlsstärke und die Vertrautheit der Jahre 1878 und 1879 kehrt nicht wieder.
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EIN TRIO FÜR NICOLAI RUBINSTEIN

In dem Masse, in dem die Bindung Tschaikowskys zu Frau von Meck an Stärke verliert, wächst der Ruhm des Künstlers. Auftragswerke häufen sich. Die nationale Festouvertüre Anno 1812, die den heroischen Widerstand des russischen Volkes gegen Napoleons Heerscharen verherrlicht, macht den Komponisten allenthalben berühmt.

Aber auch bedeutendere Werke werden nun zusehends bekannter und beliebter. Selbst der »schwierige« Eugen Onegin beweist trotz der nicht gerade brillanten Premiere bald seine wahre Lebenskraft.

Die 1881 in Petersburg erstaufgeführte Oper Die Jungfrau von Orleans nach Friedrich Schillers gleichnamiger Tragödie hat indes wenig Glück". Eduard Naprawnik, Kapellmeister des Petersburger Opernhauses und die wohl einflußreichste Persönlichkeit der Musiköffentlichkeit der Stadt, bewegte Tschaikowsky noch vor der Premiere zu zahlreichen Änderungen.

Aber auch die Ratschläge dieses routinierten Praktikers haben die Oper nicht retten können. Zwar bereiteten die Petersburger Premierenbesucher der ersten Aufführungen einen rauschenden, sensationellen Erfolg. Bald erwies sich jedoch, daß dieser Triumph nicht von Dauer war.
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Schon die Petersburger Kritiker ließen an Tschaikowskys Vertonung von Schillers Drama kein gutes Haar. Man warf dem Komponisten vor, er habe sich ganz der spektakulären Manier der französischen Großen Oper überlassen.

Meyerbeer geistere ebenso durch die Partitur wie zahlreiche italienische Vorbilder. Nur zu einer eigenen schöpferischen Leistung habe der Künstler nie vorstoßen können.

Wortführer dieser Verurteilung war Alexander Cui, ein Vertreter des inzwischen alt gewordenen »Mächtigen Häufleins«. Cui blieb auch diesmal seiner Gewohnheit treu, immer das jeweils neueste Werk Tschaikowskys als dessen weitaus schlechteste Komposition zu bezeichnen.

Tschaikowskys Oper hat sicher einige sehr schöne und wirkungsvolle Stellen. Insgesamt ist sie aber wirklich schwach. Schon Giuseppe Verdi hatte vor Tschaikowsky ohne rechten Erfolg versucht, Schillers großartige Dichtung für das musikalische Theater zu erobern. Ja, Verdis Giovanna d'Arco brachte Tschaikowsky überhaupt erst auf den Gedanken, es selber besser zu machen.

Aber auch er scheiterte. Die entscheidende Ursache für den Mißerfolg war wohl die Ferne des Stoffes zu den persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen des Komponisten. Tschaikowsky sind die Atmosphäre und die gedankliche Grundlage seiner literarischen Vorlage zutiefst fremd geblieben. Die heroische Mädchengestalt aus Orleans und ihren heiligen Krieg vermochte er gefühlsmäßig nicht zu erfassen. Für eine heilige Johanna war in seiner Vorstellungswelt kein Platz.

Tschaikowskys Jungfrau von Orleans ist ein charakteristisches Beispiel dafür, wie abhängig der russische Musiker von einer engen Bindung seiner Kunst zu seinen privaten Gefühlen war. Ohne solch einen Bezug fehlte seinem Schaffen der schöpferische Funke.
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Nicolai Rubinstein stirbt 1881

Ein trauriges Ereignis, das den Komponisten persönlich berührte, löste daher auch ein bedeutendes neues Werk aus. Während Tschaikowsky 1881 durch Frankreich und Italien reiste, erreichte ihn die Nachricht vom Tode Nicolai Rubinsteins.

Rubinstein war in Paris an Darmtuberkulose erkrankt und hatte sich entgegen dem ausdrücklichen Befehl des Arztes ein Muschelgericht zubereiten lassen. Diesen Leichtsinn mußte er mit dem Tode bezahlen.

Der Tod des nur um fünf Jahre älteren Freundes erschütterte Tschaikowsky sehr. Das Angebot, Rubinsteins Stelle als Direktor des Konservatoriums in Moskau zu übernehmen, lehnte er zwar ab. Er beschloß aber sofort, das Andenken des Freundes durch eine ihm gewidmete Komposition zu ehren. So entstand das große Trio für Klavier, Violine und Violoncello a-moll, op. 50.

Das recht umfangreiche Werk besteht nur aus zwei Sätzen. Einem klagenden Einleitungsstück (Pezzo elegiaco) folgt ein Variationssatz. Und hier hat sich Tschaikowsky unmittelbar auf ein Erlebnis mit Nicolai Rubinstein bezogen.
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Es war im Jahre 1873. - So war Rubinstein

Tschaikowskys Bühnenmusik Schneeflöckchen war soeben aufgeführt worden. Kollegen und Schüler des Moskauer Konservatoriums hatten die Musik beifällig aufgenommen. Aus einer Laune heraus beschlossen die Professoren, eine Landpartie zu unternehmen.

Einer von ihnen hat den Verlauf der Unternehmung geschildert: »Voll Heiterkeit brachen wir auf und wanderten in die Umgebung von Moskau. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Gärten strahlten in Blütenpracht und wir alle waren bester Stimmung. Als wir uns auf einem Feld zum Frühstück niederließen, waren wir bald von neugierigen Bauern umgeben.

Da kam Rubinstein der Einfall, ein kleines Volksfest zu veranstalten. Er ließ aus dem Dorfladen Wein und Süßigkeiten herbeischaffen und verteilte alles unter die Bauern. Nicolai war geradezu besessen, neue und echte Volksweisen kennenzulernen. Deshalb forderte er die Leute auf, etwas vorzutragen. Das ließen sich die Burschen natürlich nicht zweimal sagen. Sogleich erklang in unserer Mitte eine fröhliche Folge von Tänzen und Gesängen.«
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Ein "Lied" für Nicolai Rubinstein

Das Lied, das Nicolai Rubinstein an jenem Frühlingstag am besten gefallen hatte, wählte Tschaikowsky als Thema des Variationssatzes in seinem Klaviertrio.

Mit der Komposition eines Trios für Klavier, Violine und Violoncello überwand Tschaikowsky ein eigenes Vorurteil. Noch wenige Jahre vorher hatte er die Bitte Frau von Mecks, ein Klaviertrio für sie zu schreiben, aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt: »Sie fragen mich, warum ich kein Klaviertrio schreibe? Verzeihen Sie, liebe Freundin, gern würde ich Ihren Wunsch erfüllen, aber das übersteigt meine Kräfte.

Wohl infolge der Beschaffenheit unserer Hörorgane kann ich eine Verbindung von Klavier mit Geige oder Cello nicht vertragen. Mir scheint, daß diese Klangfarben miteinander nicht verschmelzen, und ich versichere, daß es für mich eine Qual ist, mir ein Trio oder eine Sonate für diese Instrumente anzuhören.«

Bei dieser ursprünglichen Abneigung gegen die Gattung ist die geniale Schöpfung des a-moll -Trios besonders erstaunlich. Das Klaviertrio op. 50 gehört zweifellos zu den eigentümlichsten und großartigsten Leistungen Tschaikowskys auf dem Gebiete der Kammermusik. Alle Vorzüge der Sinfonien, der Opern und der Ballettwerke scheinen hier verbunden.

In dem trauererfüllten und erschütternden Einleitungssatz entfaltet der russische Tondichter die ganze Fülle seiner melodischen Ausdruckskraft. In den Variationen zieht er alle Register seines brillanten kompositorischen Könnens. Virtuoser Glanz, große Fuge und bunte Charakterstücke wechseln miteinander und versuchen die ganze Reichweite der vielseitigen und lebensdurstigen Natur Rubinsteins musikalisch zu erfassen.
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Tschaikowsky und sein melodischer Einfall

Gerade die Vielfalt des Klaviertrios veranschaulicht allerdings besonders deutlich, daß alle Ausdrucksformen Tschaikowskys ein und dieselbe Wurzel haben: die Melodie. Den unerschöpflichen Reichtum an Melodien haben so unterschiedliche Kompositionen wie das Klaviertrio op. 50, die Pathetique und die drei Ballette Schwanensee, Dornröschen und Der Nußknacker miteinander gemein.

Der melodische Einfall steht für Tschaikowsky als echten Romantiker immer im Vordergrund. Wenn er komponiert, denkt er vor allem in weitgespannten und kantablen melodischen Bögen. So sehr er im allgemeinen die traditionellen Formen der Klassik beibehält, diese Formen werden ihm doch in einem ganz unklassischen Sinn zum zweitrangigen Gefäß für breit und »unendlich« dahinströmende Melodien.

Tschaikowsky hat das selber erkannt. Er äußerte einmal: »Der größere Teil der deutschen Komponisten konstruiert die Melodie verstandesgemäß, statt sie intuitiv zu erfassen. Brahms gestaltet seine Themen durch das Zusammensetzen einzelner Töne. Wagner entwickelt sie aus Harmonien. Auch Beethoven baut mehr, als daß er singt.«

Tschaikowsky hat immer gesungen. Es ist nur sein Gesang, in dem er sich seiner Umwelt mitgeteilt und sich selbst als Künstler sein Maß gegeben hat.

Ein besonders interessantes Beispiel für den neuen, »unklassischen« Charakter der Melodik in Tschaikowskys Kompositionen findet sich in der Sinfonie Nr. 5. Dem zweiten Satz dieser Sinfonie liegt eine Melodie zugrunde, die dem Thema des Adagios in Ludwig van Beethovens Neunter scheinbar sehr ähnlich ist.

Selbst die Tonart D-dur ist die gleiche. Auf den ersten Blick könnte man daher Tschaikowskys Melodie für eine schlechte Kopie halten. Hört man jedoch genauer hin, bemerkt man bald, daß diese Ähnlichkeiten nur äußerlich sind. Beethovens Thema erscheint aus einzelnen Motiven gleichsam »gebaut«. Tschaikowskys Melodie wirkt dagegen wie eine einzige geschlossene Gesangslinie. Alle Einzelheiten heben sich hier im lebendigen Schwung des Ganzen auf.
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ALS DIRIGENT DURCH DIE WELT

Das Jahr 1887 brachteTschaikowsky eine neue Erfahrung. Am 24. November trat der Musiker zum erstenmal in seinem Leben als Konzertdirigent seiner eigenen Werke auf.

Auf dem Programm standen die Orchesterphantasie Francesca da Rimini, die Konzertphantasie für Klavier und Orchester op. 56, die beliebte vaterländische Festouvertüre Anno 1812 und als Uraufführung die Suite Nr. 4 »Mozartiana«.

Der Erfolg des Konzertes war überwältigend. Er ermutigte Tschaikowsky, eine Konzerttournee durch ganz Europa zu unternehmen. So besuchte der Komponist Deutschland, die Tschechoslowakei, Frankreich und England. Überall wurde er begeistert empfangen.

Tschaikowsky hat während seiner Gastspielreise ein Tagebuch geführt. Es vermittelt nicht nur wertvolle Einsichten in das Musikverständnis des russischen Künstlers; auch nahezu alle bedeutenden Zeitgenossen hat Tschaikowsky hier beurteilt.

Ferruccio Busoni und Edward Grieg, Johannes Brahms und Antonin Dvorak, Charles Gounod und Jules Massenet hat er in seinen Aufzeichnungen in ebenso feiner wie scharfsinniger Weise zu beschreiben und zu charakterisieren versucht.
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Die erste Station der Reise war Leipzig.

Tschaikowskys Auslandstournee als Dirigent begann in einer Stadt, in der Johannes Brahms als unbestrittener Meister herrschte. Die erste Station der Reise war Leipzig.
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Über seine Begegnung mit Brahms hat Tschaikowsky in seinem Tagebuch ausführlich berichtet:

»Schon am Tage nach meiner Ankunft in Leipzig machte ich eine außerordentlich interessante Bekanntschaft. Als ich nämlich bei Brodsky (Violinvirtuose und Freund Tschaikowskys, der als Musikprofessor in Leipzig lebte) um ein Uhr zum Mittagessen erschien, hörte ich gerade den Zusammenklang von Klavier, Violine und Cello.

Man probte eben ein neues Trio von Brahms, das am folgenden Tag die Feuerprobe in der musikalischen Öffentlichkeit bestehen sollte. Brahms selbst spielte den Klavierpart. Damals hatte ich zum erstenmal Gelegenheit, dem berühmtesten zeitgenössischen deutschen Komponisten gegenüberzustehen.

Brahms ist nicht groß gewachsen und etwas beleibt. Sein hübscher, grauer Kopf erinnert mich an einen seelenguten, älteren russischen Geistlichen. Die für einen Deutschen charakteristischen Züge hat Brahms meines Erachtens überhaupt nicht, und es ist mir daher unbegreiflich, wie ein gelehrter Völkerkundler - ich stütze mich dabei auf die eigene Mitteilung des Komponisten! - gerade seinen Kopf wegen des angeblich kennzeichnenden germanischen Aussehens für das Titelblatt eines seiner Bücher wählen konnte. Eine gewisse Weichheit, dazu die sympathische Rundung der Linien, das ziemlich lange, dünne und graue Haar, die aufrichtigen, freundlichen Augen, ein dichter graumelierter Bart - alles das erinnert mich weit eher an den Typus des echten Großrussen, wie man ihn am häufigsten unter unseren Geistlichen antrifft. Brahms bewegt sich äußerst einfach und ungezwungen, ohne allen Hochmut.

Die wenigen Stunden, die ich in seiner Gesellschaft verbringen durfte, haben in mir die angenehmsten Erinnerungen hinterlassen.«

So vertraut Tschaikowsky die äußere Erscheinung von Johannes Brahms berührte, die Musik des Deutschen blieb ihm fremd. Hier vermochte er keine Verwandtschaft mit seiner Heimat zu entdecken.

»Es liegt in der Musik dieses deutschen Meisters für das russische Herz etwas Trockenes, Kaltes, Nebelhaftes und Abstoßendes. Von unserem russischen Standpunkt aus fehlt Brahms jede melodische Erfindung. Der musikalische Gedanke wird bei ihm nie ganz ausgesprochen. Kaum ist eine melodische Phrase auch nur angedeutet, so wird sie schon von allerhand harmonischen Modulationen überwuchert.

Es scheint, als ob der Komponist seine besondere Auf gäbe darin sähe, um jeden Preis tief und unverständlich zu sein. Indem er die Bedürfnisse des Zuhörers nicht befriedigt, irritiert er geradezu unser musikalisches Gefühl. Er scheut sich durchaus, in dem Tone mit uns zu reden, der allein zu Herzen geht... Zwar ist alles bei ihm ernst und gediegen, aber es fehlt eben noch die Hauptsache, nämlich die Schönheit!«
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1890 eine Gastspielreise durch die Vereinigten Staaten

Nach der Tournee durch Europa folgte 1890 eine Gastspielreise durch die Vereinigten Staaten. Tschaikowsky gab in Amerika insgesamt sechs Konzerte.

Ihr Echo konnte den Komponisten nur befriedigen. Immer mehr wurde für Tschaikowsky nun der große Erfolg zu einer Selbstverständlichkeit. Wohin er sich in seinen letzten Lebensjahren wandte, überall wurde er gefeiert.

Seine Furcht vor Menschen und seine Unsicherheit konnten aber auch diese Erfolge nie restlos beseitigen. Die Erfolge in der Welt gaben dem russischen Tondichter immerhin die Kraft, trotz der gewaltigen Anstrengungen der Dirigentengastspiele die Arbeit an seinen Kompositionen weiterzuführen.

Knapp ein Jahr nach der Tournee in den USA leitete Eduard Naprawnik am 16. Dezember 1890 die Uraufführung von Tschaikowskys Pique Dame. Diese letzte große, wiederum von einer Erzählung Puschkins angeregte Oper des Musikers bildet wohl die Krone seiner Bühnenschöpfungen und einen wirklichen Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn.

Bereits vor seiner Rückkehr in die Heimat hatte Tschaikowsky in einem Brief an den Großherzog Konstantin seine neue Oper angekündigt:

»Ich schrieb Pique Dame in weniger denn sechs Wochen, machte dann den Klavierauszug, und nun habe ich schon fast die Hälfte der Oper instrumentiert. Eine solche Anspannung meiner schöpferischen Kräfte war natürlich mit einer zunehmenden Zerrüttung meiner Nerven verbunden, die schließlich zu einer Störung meiner Gesundheit führte. Jetzt aber fühle ich mich ausgezeichneter Stimmung in der Gewißheit, nach dreimonatiger Trennung von Rußland bald im frohen Bewußtsein der vollbrachten Leistung heimkehren zu dürfen. Es ist durchaus möglich, daß Pique Dame eine schlechte Oper ist, und es ist wahrscheinlich, daß ich sie nach einem Jahr hassen werde, wie ich viele meiner Schöpfungen hasse. Jetzt aber scheint es mir, daß dies mein bestes Werk ist. Autor des Librettos ist mein Bruder Modest, der auch das Szenarium unter meiner Beihilfe entworfen hat.«
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Die Handlung der Oper Pique Dame

Die Handlung der Oper Pique Dame hat eine wichtige Vorgeschichte. Sie wird oft während der Ouvertüre als Pantomime dargestellt:

Die Bühne zeigt einen hellerleuchteten Spielsaal des ancien regime. Damen in Reifröcken und elegante Edelleute drängen sich um den Spieltisch. Unter ihnen befindet sich auch eine junge Gräfin. Ihr gegenüber beobachtet der Graf Saint-Germain ihr Pech im Spiel. Mit zitternden Händen schaut die Gräfin in ihre leere Geldbörse und verläßt schwankend den Spieltisch.

Saint-Germain folgt ihr und zeigt ihr die Rückseiten von drei Spielkarten. Diese Karten bergen das Geheimnis des Erfolges. Gierig reißt die Gräfin die Karten an sich und duldet widerstandslos die Küsse des Kavaliers. Für Glück im Spiel ist sie bereit, ihre Ehre hinzugeben. Sie kehrt an den Tisch zurück und gewinnt. Graf Saint-Germain betrachtet sein Opfer mit höhnischer Zufriedenheit.

Im Mittelpunkt der eigentlichen Opernhandlung stehen drei Figuren: Die inzwischen alt gewordene Gräfin, die entschlossen ist, das Geheimnis der drei Spielkarten mit ins Grab zu nehmen, der schwächliche Hermann, der der Gräfin dieses Geheimnis entreißen will, um Lisa zu gewinnen, und endlich Lisa selbst, ein Idealbild der russischen Frau, die zur Rettung des Geliebten zu jedem Opfer bereit und fähig ist.

Die Gräfin (Alt) hat ihre Enkeltochter Lisa (Sopran) dem Fürsten Jeletzky (Bariton) zur Frau versprochen. Der mittellose Hermann (Tenor), der Lisa liebt, sinnt nach Möglichkeiten, reich zu werden, um neben dem Fürsten bestehen zu können. Als er erfährt, daß die Gräfin ein Mittel kennt, unfehlbar im Spiel zu gewinnen, beschließt er, dieses Mittel zu entdecken.
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Auch Lisa liebt Hermann. Sie ist sogar bereit, mit dem armen Geliebten zu fliehen. Hermann aber ist nur noch besessen von seinem Plan. Heimlich dringt er in das Zimmer der Gräfin ein und bestürmt sie, die drei glückbringenden Karten zu nennen. Die Gräfin schweigt. Als Hermann sie schließlich mit der Pistole bedrängt, stirbt sie vor Schrecken. Hermann erfährt das Geheimnis allerdings doch noch.

Während er über sein Schicksal grübelt, erscheint ihm der Geist der toten Gräfin und verkündet: »Drei, Sieben, As.« Hastig und ohne die ihn erwartende Lisa zu beachten, stürzt Hermann in den Spielsaal. Er setzt die Drei und gewinnt. Er setzt die Sieben und gewinnt wieder. Siegestrunken setzt er sein ganzes Geld auf das As - und verliert. Das Gewinn-As befindet sich in der Hand seines Gegners. Entsetzt erkennt er in der eigenen Hand die Pique-Dame. Verzweifelt ersticht er sich.

Wie schon bei Eugen Onegin war Tschaikowsky auch die Welt der Pique Dame sehr vertraut. Den unsicheren und schwankenden Charakter Hermanns, dem das Schicksal nur »Leiden am Leben« schafft, konnte er weitaus echter gestalten als die heroische Jungfrau von Orleans:

»Gestern schrieb ich das Finale. Als ich an die Stelle kam, wo Hermann sich ersticht, ergriff mich ein derartiges Mitleid mit meinem Helden, daß ich zu weinen begann ... Noch nie hat mich irgendeine meiner Gestalten derart gerührt. Ich fragte mich aufrichtig, woher das komme, und ich bemerkte, daß Hermann nicht ein bloßer Vorwand war, Musik zu machen, sondern ein lebender Mensch aus Fleisch und Blut, würdig menschlicher Sympathie.«

In der Wahrhaftigkeit und Überzeugungskraft des Gefühlsausdrucks liegt sicherlich die entscheidende Ursache für den Erfolg von Pique Dame. Ähnlich wie bereits in Eugen Onegin hat es Peter Iljitsch Tschaikowsky hier verstanden, den Empfindungsreichtum seiner Seele auf die Figuren und Ereignisse eines musikalischen Bühnenspiels zu übertragen.
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ZUR SCHALLPLATTE

Peter Iljitsch Tschaikowsky, Italienisches Capriccio für Orchester, op. 45 Es spielt das Orchester der Volksoper Wien unter der Leitung von Edouard van Remoortel (Vox PI 11210) Spieldauer: 15 Minuten

Etwa seit 1880 verbreitete sich der Ruhm Tschaikowskys auch über die Grenzen Rußlands hinaus. Die sinfonischen Dichtungen und die Sinfonie Nr. 4 fanden langsam in ganz Europa Freunde. Pianisten wie Bülow, Friedenthal, Breitner und Rubinstein trugen den Namen des russischen Tondichters als Interpreten des Klavierkonzertes Nr. 1 durch die Welt.

Das Italienische Capriccio op.45, das am 18. Dezember 1880 in Moskau erstaufgeführt wurde, ist ein echter Ausdruck der durch diese Erfolge geschaffenen Atmosphäre von Selbstvertrauen und Zufriedenheit.

Das unbeschwerte Stück ist so etwas wie ein Blatt aus einem musikalischen Reisetagebuch. Der Tourist sammelt die Eindrücke, die sich seinem Blick darbieten. Diesmal geht es Tschaikowsky nicht um die Gestaltung eines aufwendigen Gefühlsprogramms. Hier überläßt er sich unbelastet der Sonne Italiens.

Zahlreiche musikalische Reiseeindrücke sind in die brillante Partitur verwoben. Dem Trommelwirbel eines festlich-fröhlichen Militärmarsches folgt ein heiteres Ständchen, einer verträumten Liedweise aus Venedig ein lustiger Rundgesang aus der Toskana, einem neapolitanischen »Schlager«, der typische Tanz des Südens, die Tarantella.

Peter Iljitsch Tschaikowsky, Nußknacker-Suite op. 71a
Es spielt das Berliner Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Walter Jürgens

I Ouvertüre

II Sechs charakteristische Tänze:

1. Marsch - Tempo die marcia viva
2. Tanz der Zuckerfee - Andante non troppo
3. Russischer Tanz - Tempo di trepak, molto vivact
4. Arabischer Tanz - Allegretto
5. Chinesischer Tanz - Allegro moderato
6. Tanz der Rohrflöten (Mirletons) - Moderato assai

III Blumenwalzer - Tempo di Walzer - (AFI Hamburg) Spieldauer: 22 Minuten
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Die epische Erzählform des Balletts erscheint in der Partitur der Nußknacker-Suite von Peter Tschaikowsky als eine Folge von kurzen, in Melodie, Rhythmus und Klangfarbe klar umrissenen Tanzstücken. Das vollständige Ballett besteht aus 23 »Nummern«. Sieben von ihnen hat Tschaikowsky in die Suite übernommen.

Die Folge von kurzen Tanzstücken verbietet natürlich die Entwicklung einer weiträumigen, großen Form. Tschaikowsky überläßt sich diesmal ganz dem flüchtigen Einfall. Eine kleine hübsche musikalische Idee reicht ihm aus, um der Perlenkette seiner »Nummern«-Folge einen glitzernden Stein einzufügen.
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Der besondere Reiz der Nußknacker-Suite

Der besondere Reiz der Nußknacker-Suite liegt in der sprechenden Melodik, der feinen Rhythmik und besonders in der ebenso duftigen wie vielfältigen Instrumentation. Jedem einzelnen Tanz gibt Tschaikowsky durch eine aparte Instrumentenauswahl aus dem Riesenapparat des spätromantischen Sinfonieorchesters seine unverwechselbare Farbe.

Ja, erst die jeweilige Klangschattierung macht die sechs Stücke der Suite zu »charakteristischen« Tänzen. Neben allen sonstigen Schönheiten vermittelt Tschaikowskys Nußknacker-Suite so geradezu eine genußreiche Lehrstunde über die Möglichkeiten des Orchesterklangs.

Schon die Ouvertüre entfaltet die ganze farbige Palette des spätromantischen Sinfonieorchesters. Nach und nach breitet der Komponist die verschiedenen Klangbilder vor dem Zuhörer aus. Die Instrumentation entwickelt sich von ganz einfachen zu immer reicheren und vielfältigeren Wirkungen. Zunächst beginnen nur die Streicher.

Dann aber werden immer mehr Instrumente an der Ausgestaltung beteiligt. Im Mittelpunkt der Nußknacker-Suite steht die Folge der sechs charakteristischen Tänze. Den Anfang macht ein kleiner, übermütiger Marsch, den Streicher und Bläser anstimmen. Die ganz leichte, duftige Instrumentation hebt den an sich eher deftigen Rhythmus des Marsches auf eine ausgesprochen spielerische Ebene. Huschende Motive der Flöten und der Klarinetten bringen eine gewisse Änderung der Stimmung. Bald jedoch kehrt das fröhliche »Märschchen« wieder.

Der Tanz der Zuckerfee erhält seinen besonderen Reiz durch die Celesta, die erst fünf Jahre vor der Komposition der Nußknacker-Suite von Mustel konstruiert worden war. Als einer der ersten hat Tschaikowsky den hellen, glöckchenartigen Klang dieses Stahlstabklaviers zu nutzen gewußt. Die kristallklare, durchsichtige Klangwelt der Celesta (wörtlich: die Himmlische) verbindet sich mit Baßklarinette und Violen (Bratschen) zu einem virtuosen, feingliedrigen Spiel.

Der Trepak, ein deftiger Kosakentanz, zieht demgegenüber alle Register des großen Orchesters. Der stampfende Rhythmus steigert sich mehr und mehr und mündet schließlich in ein eindrucksvolles Prestissimo. Der arabische Tanz kehrt wieder zu einer mehr raffinierten Klangschattierung zurück. Die Streicher spielen mit Dämpfer und bilden den zarten Grund für eine weiche, exotische Weise. Feiner, leiser Trommelwirbel wird hörbar. Nachtstimmung herrscht. Selbst das Lautlose scheint noch wahrnehmbar.
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Der chinesische Tanz

Der chinesische Tanz hat einen ausgesprochen grotesken Charakter. Die Fagotte markieren den Grundrhythmus des Stücks. Flöten und Piccolo-flöte stürzen sich in merkwürdig überhastete Motive. Die Streicher antworten mit kurzen, gezupften Passagen. Die Besetzung wird immer reicher.

Langsam findet sich das ganze Orchester zusammen. Der Tanz der Mirletons hat seinen Namen nach einem Kinderinstrument. Es handelt sich dabei um eine Rohrflöte, die aus einem ausgehöhlten Holunderzweig oder nur aus einem rohrförmig gerollten Pappkarton besteht. Die Luft entströmt an beiden Enden des Rohres. Das Blasloch befindet sich in der Mitte. Tschaikowsky hat in dem Tanz der Mirletons nicht versucht, den näselnden Ton dieser Kinderrohrpfeife wirklichkeitsgetreu wiederzugeben, aber er will die naive Klangsphäre von Spielzeuginstrumenten erstehen lassen. Trommel, Flöten und Trompeten, die schon Joseph Haydn in seiner Kinder-Sinfonie zu vergleichbaren Zwecken verwendet hatte, verbinden sich zu einem entzückenden, dem »Musizieren« von Kindern ähnlichen Spiel.

Die Möglichkeiten des Orchesterklangs, den die sechs charakteristischen Tänze demonstrieren, erscheinen in dem abschließenden Blumenwalzer noch einmal zusammengefaßt. Dieser brillante Walzer bildet mit der Ouvertüre den Rahmen der Suite. Die verschiedenen Melodien wandern wieder durch das gesamte Orchester. Bläser und Streicher nehmen gleichermaßen an der Entfaltung der einzelnen Themen teil.

Das Bühnenwerk Der Nußknacker wurde am 17. Dezember 1892 im Petersburger Marien-Theater uraufgeführt. Die Choreographie entwarf der berühmte Ballettmeister Marius Petipa. Sein Assistent Lew Iwanow verwirklichte sie. Die musikalische Leitung lag wiederum in den Händen von Eduard Naprawnik. Die Premiere fand keine besondere Beachtung. Schon wenig später zeichnete sich jedoch bei einer Wiederaufnahme der dauerhafte Erfolg des Balletts ab. Bald wurde es zu einem festen Bestandteil des Repertoires.
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Die Handlung des Balletts

Die Handlung des Balletts folgt E. Th. A. Hoffmanns Erzählung Nußknacker und Mausekönig.

Im festlich geschmückten Weihnachtszimmer empfangen der Präsident und seine Frau die Gäste, die den Heiligen Abend mit ihnen verbringen wollen. Die Kinder sind die Hauptpersonen des Abends. Alle erhalten Geschenke. Onkel Drosselmeyer schenkt seinem Liebling Klara einen Nußknacker.

Endlich verabschieden sich die Gäste. Alle gehen zu Bett. Nur Klara kann nicht schlafen. Während sie allein in dem dunklen Zimmer zurückbleibt, bemerkt sie, wie sich alles um sie herum verzaubert.

Eine wilde Mäusehorde stürmt herein, die von dem Mäusekönig angeführt wird. Die Mäuse fallen über eine Kompanie Soldaten her, an deren Spitze der in einen lebendigen Bub verwandelte Nußknacker steht. Das Heer des Nußknackers gerät in arge Bedrängnis. Nur dem Eingreifen Klaras ist es zu verdanken, daß es doch noch siegt.

Als Belohnung für die Errettung lädt der Nußknacker Klara ins Königreich der Süßigkeiten ein. Nachdem sie mit Hilfe von Schneekönig und Schneekönigin einen wilden Schneesturm überwunden haben, kommen Klara und der Nußknacker tatsächlich in dieses Königreich.
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Im Königreich der Süßigkeiten

Im Königreich der Süßigkeiten verwandelt sich der Nußknacker in einen wunderschönen Prinzen. Er und die Zuckerfee organisieren für Klara ein rauschendes Fest.

Eine Reihe von Charaktertänzen (das sind die Sätze der Suite) veranschaulichen Klara die Köstlichkeiten dieser Welt. Schließlich geht das festliche Treiben mit dem Blumenwalzer, einem Pas de deux des Prinzen mit der Zuckerfee und einem rauschenden Finale zu Ende.

Ohne Zweifel hat Tschaikowsky mit der musikalischen Gestaltung dieser Handlung eine seiner reizvollsten Kompositionen geschaffen. Ja, in der virtuosen Klangwelt des Nußknacker-Balletts ist die romantischmärchenhafte und bewußt gekünstelte Atmosphäre von E. Th. A. Hoffmanns Erzählung Musik geworden:

»In dem Augenblick ließ sich eine sehr angenehme, sanfte Musik hören, die Tore des Schlosses öffneten sich und es traten zwölf kleine Pagen heraus mit angezündeten Gewürzstengeln, die sie wie Fackeln in den kleinen Händchen trugen. Ihre Köpfe bestanden aus einer Perle, die Leiber aus Rubinen und aus Smaragden und dazu gingen sie auf sehr schön aus purem Gold gearbeiteten Füßchen einher. Ihnen folgten vier Damen, beinahe so groß als Mariens Klärchen, aber so über die Maßen herrlich und glänzend geputzt, daß Marie nicht einen Augenblick in ihnen die geborenen Prinzessinnen verkannte .....

Nun geleiteten die Damen Marien und den Nußknacker in das Innere des Schlosses, und zwar in einen Saal, dessen Wände aus lauter farbig funkelnden Kristallen bestanden ... Die Prinzessinnen nötigten Marien und den Nußknacker zum Sitzen ... Unterdes begann der Nußknacker zu erzählen ... Marie war es, als klängen seine Worte - ein seltsames Singen und Schwirren und Summen ließ sich vernehmen, das wie in die Weite hin verrauschte; nun hob sich Marie wie auf steigenden Wellen immer höher und höher - höher und höher - höher und höher...«
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