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DIE GROSSEN MUSIKER Nr.3
PETER ILJITSCH TSCHAIKOWSKY • Band III

INHALT  
A - Text- und Bildteil:  
Auf der Flucht Seite 25
»Sinfonie Nr. 4« und »Eugen Onegin« Seite 28
Tschaikowsky und Tolstoi Seite 32
Zur Schallplatte Seite 34
   
B - Die beiden Langspielplatten:  
Sinfonie Nr. 6 h-moll, op. 74 »Pathetique«;  
Slawischer Marsch op. 31;  
Ouvertüre »Anno 1812« op. 49  

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Die grossen Musiker - Einführung Teil 3

Die neue Musikzeitschrift aus dem Bastei -Verlag • Mit Langspielplatte • © 1966 für alle Länder Fabbri, Mailand • Deutsche Lizenzausgabe 1967 des Originaltitels »I Grandi Musicisti« • Alle Rechte der deutschen Ausgabe und der deutschen Texte: Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, 507 Bergisch Gladbach • Redaktion: Günther Jäkel und Leo Karl Gerhartz • Musikwissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Günther Massenkeil, Bonn und Privatdozent Dr. Klaus Wolfgang Niemöller, Köln • Übersetzung: Leo Karl Gerhartz • Herstellung: Horst Scholz • Satz: Drudterei Gustav Lübbe • Druck: Fratelli Fabbri, Mailand • Printed in Italy.

Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus der Faksimile-Ausgabe der Skizzen zu Tschaikowskys Sinfonie »Pathetique«. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Tschaikowsky-Studios in Hamburg. Die diesem Band beigefügten Langspielplatten bringen die ungekürzten Aufnahmen von Peter Iljitsch Tschaikowsky

SINFONIE NR. 6 H-MOLL, OR74 »PATHETIQUE«
1.Satz: Adagio - Allegro non troppo
2. Satz: Allegro con grazia
3. Satz: Allegro molto vivace
4. Satz: Finale: Adagio lamentoso - Andante

SLAWISCHER MARSCH B-MOLL FÜR ORCHESTER, OP.31
»ANNO 1812«, FESTOUVERTÜRE FÜR ORCHESTER, OP.49

Es spielen das Berliner Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Walter Jürgens und die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Heinrich Hollreiser - Spieldauer: 66 Minuten - 8 DM
Die Langspielplatten von hervorragender Wiedergabequalität können auf Mono- und Stereogeräten mit 33 1/3 Upm abgespielt werden.
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AUF DER FLUCHT

Die Katastrophe der Ehe mit Antonina Nicolajewna stürzte Peter Tschaikowsky in eine ernste und besorgniserregende geistige Krise. Schließlich führte die ungeheure seelische Belastung, der der Komponist nach der Hochzeit ausgesetzt war, sogar zu einem schweren körperlichen Zusammenbruch.

Im Grunde erwies sich allerdings diese Verwandlung des seelischen in körperliches Leid als eine glückliche Wende. Denn gerade das körperliche Kranksein half Tschaikowsky, den schon verloren geglaubten Willen zum Leben allmählich wiederzugewinnen.

Die schwere Krise des Jahres 1877 konnte natürlich Tschaikowskys Neigung zur breit ausladenden, das Leid des eigenen Ich widerspiegelnden Melodie nur vertiefen. Nach der Rückkehr zum Leben suchte der Komponist den schöpferischen Ausgangspunkt seines Schaffens immer ausschließlicher in seinem eigenen (gebrochenen) Verhältnis zur Wirklichkeit. Das erste Zeugnis dieser ständig sich steigernden Entwicklung ist die Sinfonie Nr. 4, ihr Gipfel die nur wenige Monate vor dem Tode des Komponisten vollendete Bekenntnismusik der Pathetique.

Eine wichtige Hilfe, die traurigen Ereignisse seiner Ehe zumindest äußerlich zu überwinden, war für Tschaikowsky eine große Reise durch Westeuropa. Begleitet und liebevoll gepflegt von seinem zehn Jahre jüngeren Bruder Anatol, verließ er im Herbst 1877 Moskau und Rußland und fuhr über Berlin in die Schweiz nach Ciarens.

Ciarens, am Ufer des Genfer Sees, war seit je für die Russen eine Zufluchtsstätte. Viele russische Revolutionäre fanden hier Schutz vor politischer Verfolgung. Auch Tschaikowsky kam in gewisser Weise als Emigrant nach Ciarens. Der seinem Zaren aufrichtig ergebene Musiker, dem in der Kunst wie in der Politik alles Umstürzlerische gleich verhaßt war, befand sich jedoch auf einer ganz anders gearteten Flucht als seine vertriebenen Landsleute.
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Die Flucht vor sich selbst - ein Brief an Frau von Meck

Ein ausführlicher Brief des Komponisten an Frau von Meck verdeutlicht das eindrucksvoll.

»Nun befinde ich mich hier in einer herrlichen Gegend, aber in einer fürchterlichen Gemütsverfassung. Was soll weiter werden? Es liegt auf der Hand, daß ich nicht nach Moskau zurückkehren kann. Ich kann niemanden sehen, ich fürchte mich vor jedem Menschen und: ich kann nicht arbeiten. Ich kann auch nach keinem anderen Ort in Rußland gehen. Ich scheue mich sogar, nach Kamenka zu fahren.

Außer der Familie meiner Schwester, die bereits eine große Tochter hat, wohnen in Kamenka die Familie ihrer Schwiegermutter, die Brüder ihres Mannes und verschiedene andere mir bekannte Leute. Was würden sie alle von mir denken? Was könnte ich ihnen sagen? Auch kann ich eben mit niemandem über nichts sprechen. Ich muß eine Weile hier bleiben, zur Ruhe kommen und die Welt mich ein bißchen vergessen lassen.«
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  • Anmerkung : Wie gesagt, Homosexualität war verboten und geächtet und durfte nie ein Gesprächsthema sein. Schlimmer war es damals für die - bis zur Offenbarung in der Hochzeitsnacht - unbedarfte Ehefrau, die dieses intime Geheimnis nie preisgeben durfte, weil sie dann die Geächtete war und aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde.

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Tatsächlich war Tschaikowskys erste Reise nach Westeuropa zunächst vor allem eine überstürzte, nur mangelhaft vorbereitete Flucht. Auch die notwendigen finanziellen Mittel fehlten völlig. Schon in Ciarens mußte Tschaikowsky seine Freundin und Wohltäterin um Unterstützung bitten:

»So brauche ich denn wieder Geld, und wiederum kann ich niemanden darum bitten als Sie allein. Es ist schrecklich, es ist mir peinlich bis zu Schmerz und Tränen, aber ich muß es tun, muß mich wieder an Ihre unerschöpfliche Güte wenden. Um mich hierher zu bringen, verschaffte mir mein Bruder ein wenig Geld von meiner Schwester. Schwester und Schwager sind aber keineswegs wohlhabend; sie noch einmal zu bitten, ist unmöglich ... Ich hatte gehofft, Rubinstein würde mir eine einmalige Sondervergütung verschaffen, doch meine Hoffnung wurde enttäuscht.

Kurz, der letzte Rest meiner bescheidenen Mittel geht zur Neige, und ich habe außer Ihnen niemanden, der mir helfen könnte. Ist es nicht seltsam, daß das Schicksal Sie und mich gerade zu einem Zeitpunkt zusammenführt, da ich nach einer langen Reihe von Unsinnigkeiten mich genötigt sehe, Sie zum dritten Male um Hilfe zu bitten! Ach, wenn Sie wüßten, wie mich das quält, wie schmerzlich es mir ist!

Wenn Sie wüßten, wie fern mir der Gedanke lag, Ihre Güte zu mißbrauchen. Ich bin zu gereizt und erregt, um ruhig zu schreiben. Mir scheint, alle müßten mich jetzt wegen meines Kleinmuts, meiner Schwäche und meiner Dummheit verachten. Ich fürchte sehr, daß auch in Ihnen etwas der Verachtung Ähnliches erwachen könnte. Doch nein, hier spricht nur krankhaftes Mißtrauen. Denn in Wirklichkeit weiß ich ja, daß Sie von innen heraus verstehen werden, daß ich wohl ein unglücklicher, aber kein schlechter Mensch bin.

Oh, meine liebe, gütige Freundin! Inmitten meiner Qualen in Moskau, als mir schien, daß es außer dem Tode keinen Ausweg mehr gebe, als ich mich hoffnungsloser Verzweiflung ganz überließ, dachte ich zuweilen, daß Sie mich retten könnten. Als mein Bruder, in der Einsicht, daß ich möglichst weit fort müßte, mich ins Ausland brachte, dachte ich wieder, daß ich ohne Ihre Hilfe nicht durchkommen könnte und daß Sie wieder als der Retter in der Not erscheinen würden. Und jetzt, da ich diesen Brief schreibe, gequält durch die Peinlichkeit meiner Bitte, fühle ich doch, daß Sie mein wahrhaftiger Freund sind, der es vermag, in meiner Seele zu lesen ...«
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Und Frau von Meck half

Und Frau von Meck half wiederum mit der ihr eigenen Großzügigkeit. Für den Augenblick finanziell gesichert und frei von den ihm unerträglichen Pflichten des Lehrberufs am Moskauer Konservatorium konnte Tschaikowsky seine Reise durch Europa fortsetzen. Im November 1877 war er in Florenz, bald darauf in Rom und Venedig. Schließlich verweilte er in San Remo.

Die zahlreichen Eindrücke, die die Aufenthalte in der Schweiz und in Italien Tschaikowsky vermittelten, führten den Komponisten zu seiner Kunst zurück, Noch während der Reise begann er wieder zu komponieren. Ja, das Scheitern der Liebe im Leben regte den Künstler an, deren Qualen und Wonnen in seiner Musik zu gestalten.

So heißt es in einem Brief an Frau von Meck:

»Sie fragen, ob ich auch nichtplatonische Liebe gekannt hätte. Ja und nein. Stellt man diese Frage etwas anders und fragt, ob ich das Glück erfüllter Liebe erlebt hätte, so anworte ich: Nein, nein, nein!

Ich glaube übrigens, daß auch in meiner Musik eine Antwort auf diese Frage enthalten ist. Fragen Sie mich aber, ob ich die ganze Macht, die unendliche Gewalt der Liebe kenne, so antworte ich: Ja, ja, ja!

Und wiederhole, daß ich oft liebevoll versucht habe, durch Musik die Qual und zugleich die Seligkeit der Liebe auszudrücken. Ob mir das gelungen ist, weiß ich nicht, darüber mögen andere urteilen. Ich stimme keineswegs mit Ihnen darin überein, als könne Musik die allumfassenden Eigenschaften der Liebe nicht wiedergeben.

Im Gegenteil, nur die Musik allein kann es. Sie sagen, hier seien Worte nötig. O nein! Gerade hier sind Worte machtlos, und wo sie versagen, da erklingt in ihrer ganzen Gewalt eine beredtere Sprache, die Musik.«
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Musik sei eine Sprache

Wie alle Tonkünstler der Romantik war Tschaikowsky der Auffassung, auch die Musik sei eine Sprache. Robert Schumann verteidigte den Sprachcharakter der Musik mit den Worten: »Das wäre eine kleine Kunst, die nur Klänge und keine Sprache noch Zeichen für Seelen-zustände hätte!«

Tschaikowsky hätte sich ähnlich ausdrücken können. Auch ihm genügte es nicht, schöne Melodien zu erfinden. Er wollte zudem mit seiner Musik etwas mitteilen. Sein erster großer Versuch, diesen Wunsch zu verwirklichen, ist seine vierte Sinfonie.

»SINFONIE NR.4« UND »EUGEN ONEGIN«

Während seines Aufenthaltes in der Schweiz und in Italien vollendete Tschaikowsky zwei seiner bedeutendsten und bekanntesten Werke: die Sinfonie Nr. 4 und die von Alexander Puschkins gleichnamigem Roman angeregte Oper Eugen Onegin. Beide Kompositionen sind überzeugende Beispiele dafür, daß es dem russischen Künstler nach der Überwindung seiner Ehekrise in steigendem Maße darauf ankam, in seiner Musik bestimmte Gefühlsprogramme zu verwirklichen.

Die Sinfonie Nr. 4 ist Frau von Meck gewidmet und stellt den wohl "eindeutigsten" (eindeutig = ein absolutes Attribut) künstlerischen Ausdruck der Bindungen des Musikers zu seiner Wohltäterin und Freundin dar. Ein reger und intensiver Gedankenaustausch zwischen Peter Iljitsch und Nadjeshda von Meck begleitete das Entstehen der Partitur. Schließlich sprachen die Partner in ihren Briefen sogar nur noch von »unserer Sinfonie«.

In seinem Widmungsschreiben hat Tschaikowsky die Nähe seiner Komposition zu der Empfindungsweit der Frau von Meck besonders betont: »Ich hoffe sehr, daß Sie in dieser Musik das Echo Ihrer tiefsten Gefühle und Ihrer geheimsten Gedanken entdecken werden.«

Er hat sich jedoch keineswegs darauf beschränkt, in seiner Sinfonie nur seine Bindungen zu Frau von Meck anklingen zu lassen. Er gestaltete vielmehr zugleich ein allgemeineres und umfassenderes Programm. In einem - natürlich an die Freundin gerichteten - Brief hat er den »Inhalt« der Sinfonie Nr. 4 selber enthüllt:

»Sie fragen, ob die Sinfonie ein bestimmtes Programm hat ... Unsere Sinfonie hat ein Programm, d.h. es besteht hier die Möglichkeit, in Worten darzulegen, was sie auszudrücken sucht ... Die Einleitung ist das Samenkorn der ganzen Sinfonie, der Haupteinfall, von dem alles abhängt. Hier erscheint (in der Fanfare der Blechbläser) das Fatum, das Schicksal, jene verhängnisvolle Macht, die unser Streben nach Glück nicht verwirklichen läßt, die wie Damokles' Schwert über unserem Haupte hängt und unsere Seele immer und immerfort vergiftet. Diese Macht ist unbesiegbar und unentrinnbar. Uns bleibt nichts übrig als Ergebung und fruchtlose Sehnsucht. Freudlosigkeit und Hoffnungslosigkeit werden immer stärker, immer quälender.

Wäre es nicht besser, sich von der Wirklichkeit abzuwenden und in Träume zu versinken? O welche Freude! Nun ist wenigstens ein süßer und zärtlicher Traum erwacht! Ein beseligendes, lichtes Menschenbild schwebt dahin und lockt ins Unbestimmte. Wie herrlich! Alles Finstere, Freudlose ist vergessen. Das ist es, das ist es, das Glück! Doch nein! Es war nur ein Traum, das Fatum, das Schicksal weckt uns auf ... So ist denn unser ganzes Leben ein unablässiger Wechsel harter Wirklichkeit und flüchtiger Traumgebilde, flüchtiger Träume von Glück ... Es gibt keinen Hafen ... Schwimme dahin durch dieses Meer, bis es dich umschlingt und hinabzieht in seine Tiefe ...
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Der zweite und dritte Satz der Sinfonie

Der zweite Satz der Sinfonie drückt eine andere Stufe der Schwermut aus. Es ist jenes wehmütige Gefühl, das uns des Abends ergreift, wenn wir einsam dasitzen, ermüdet von unserem Tagewerk, ein Buch auf den Knien, das unserer Hand entsank. Erinnerungen brechen auf. Wie süß sind diese Erinnerungen an die Jugendzeit, und wie traurig, daß schon so vieles war und vergangen ist ... Wie schmerzlich und doch wie süß ist es, sich in die Vergangenheit zu versenken! ...

Der dritte Satz drückt keine bestimmten Empfindungen aus. Es sind allerlei Schnörkel, unfaßliche Bilder, die einem durch den Sinn schweben, wenn man ein Gläschen Wein getrunken hat und leicht berauscht ist ...

Plötzlich taucht die Erinnerung an ein betrunkenes Bäuerlein auf - irgendwo in der Ferne zieht ein militärischer Aufzug vorüber. Es sind abgerissene Bildfetzen jener Art, wie sie uns beim Einschlafen durch den Sinn huschen. Sie haben mit der Wirklichkeit nichts gemein, sind seltsam, wüst, abgerissen.

Der vierte Satz: Wenn du in dir selbst keinen Anlaß zur Freude findest, so suche sie in anderen Menschen. Geh ins Volk, sieh, wie es versteht, heiter zu sein und sich ungehemmt der Freude hinzugeben ...

Ein Volksfest findet statt. Doch kaum hast du dich selbst vergessen in der Betrachtung fremder Freuden, als das Fatum, das unentrinnbare Schicksal, aufs neue erscheint und an sich erinnert. Aber die anderen kümmern sich nicht um dich. Sie haben sich nicht einmal nach dir umgewandt, dich nicht angeblickt und nicht bemerkt, daß du einsam und traurig bist ...«

Dieser ausführliche Bericht veranschaulicht unmittelbar, um was für eine Art von »Programmusik« es sich bei der vierten Sinfonie handelt. Tschaikowsky ging es hier nicht wie etwa in dem »Schlachtengemälde« seiner berühmten Ouvertüre Anno 1812 um die musikalische Vergegenwärtigung eines bestimmten historischen Ereignisses.

Von solch einer realistischen Programmatik ist die Sinfonie Nr. 4 weit entfernt. Der Komponist erstrebte vielmehr die Gestaltung eines seelischen, gefühlsträchtigen Gehalts.

Ein Blick rüber zu Franz Liszt

Franz Liszt, Romantiker und Kosmopolit wie Tschaikowsky, hat die Gattung der auf einem seelischen Gefühlsprogramm aufgebauten sinfonischen Dichtung begründet. In der »Poesie« der Sinfonie Nr. 4 steht Tschaikowsky spürbar in seiner Nachfolge.

In dem 1855 von Liszt komponierten Orchesterwerk Prometheus ist sogar schon der zentrale Gegenstand von Tschaikowskys Komposition angedeutet. Denn auch dort bildet das vergebliche Aufbegehren des Menschen gegen das unerbittliche Walten des Schicksals den eigentlichen Werkinhalt.

Auch Eugen Onegin, der zur gleichen Zeit entstand wie die Sinfonie Nr. 4, ist nichts anderes als die szenisch-musikalische Darbietung eines romantischen Gefühlsprogramms. Jede aufwendige, realistische Theatralik wird hier bewußt zugunsten einer Vorstellung der jeweiligen Empfindungswelt der Hauptpersonen vermieden. Tschaikowsky hat deshalb sein erstes bedeutendes Werk für das Musiktheater auch zu Recht nicht als »Oper«, sondern als »lyrische Szenen« bezeichnet.
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Die Story von "Eugen Onegin"

Die beiden Bauernmädchen Tatjana (Sopran) und Olga (Alt) lieben Onegin (Bariton) und Lenski (Tenor). Die verträumte Tatjana erkennt in Onegin ihr Ideal und bekennt ihm in einem Brief ihre glühende Liebe (vgl. S. 27).

Onegin vermag sich jedoch nicht zu entscheiden. Er will sich nicht binden und frei bleiben. Die lebenslustige Olga und Lenski hingegen finden sich und gestehen einander freudig ihre gegenseitige Neigung. Doch Onegin stört ihr Glück.

Bei einem übermütigen Fest macht er Olga so eindringlich den Hof, daß Lenski ihn zum Duell auffordert. Der Zweikampf findet statt und Lenski wird getötet. Nach langer Zeit kehrt der von Gewissensbissen durch die Welt getriebene Eugen Onegin in die Heimat zurück.

Auf einem Ball im Hause des Fürsten Gremin, dessen Gattin Tatjana inzwischen geworden ist, sieht er die Freundin wieder. Tatjana liebt Onegin immer noch. Sie reißt sich aber von dem Geliebten los, um das Versprechen ihrer Ehe zu halten.

Einsam und verzweifelt verläßt Onegin den fürstlichen Palast. Schon diese wenigen Worte genügen, um die Nähe des Inhalts der Oper zu den persönlichen Erfahrungen des Komponisten anzudeuten. Einige Situationen der Handlung kannte Tschaikowsky sogar unmittelbar aus eigenem Erleben. Und in dieser persönlichen Vertrautheit mit dem Stoff liegt wohl der entscheidende Grund für das besondere Gelingen des Eugen Onegin.

Antonina Nicolajewna hatte ihrem nichtsahnenden Musiklehrer in einem Brief ihre große Liebe gestanden. Die Szene, in der Tatjana dem gleichgültigen Onegin einen glühenden Liebesbrief schreibt, inspiriert Tschaikowsky zu einer seiner schönsten Arien.

Ein weiterer Grund für die glückliche Vertonung von A. Puschkins Versroman muß sicherlich in dem Umstand gesehen werden, daß Tschaikowsky in seiner Oper - im Gegensatz zu der Sinfonie Nr. 4 - gezwungen war, sein eigenes Fühlen auf die Figuren des Bühnenspiels zu übertragen und damit gleichsam von seiner Person zu entfernen.

In der Sinfonie Nr. 4 - und in manchem anderen sinfonischen Werk - verliert sich der Komponist allzu oft und allzu leicht in bloße melancholische Selbstbespiegelung. Die Musik des Eugen Onegin erscheint demgegenüber gerade dieser ich-bezogenen Enge merkbar entrückt.
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Der 29. Mai 1879 im Theater des Moskauer Konservatoriums

Die Premiere des Eugen Onegin fand am 29. Mai 1879 im Theater des Moskauer Konservatoriums statt. Der Erfolg der weitgehend von Schülern der Akademie bestrittenen und sicher nur mittelmäßigen Aufführung war gering. Im Grunde waren nur die Kollegen vom Konservatorium angetan. Diese Anerkennung von Fachleuten aber hat Tschaikowsky besonders wohlgetan.

Die Aufführungsgeschichte des Eugen Onegin hat das Urteil der Moskauer Musikprofessoren bestätigt. Schon für den 8, November 1892 konnte das Petersburger Opernhaus die hundertste Aufführung des Werkes ankündigen. Und auch heute noch zählt Eugen Onegin zu den beliebtesten Opern im russischen Theaterrepertoire.

Tschaikowskys »lyrische Szenen« markieren in der Entwicklung der russischen Oper das Ende jener revolutionär-kämpferischen Bewegung, die mit Glinkas "Ein Leben für den Zaren" begann und mit Mussorgskis "Boris Godunow" ihren Höhepunkt erreichte. Die Gefühlsprogrammatik des Eugen Onegin hat mit dem historischen Realismus des Boris Godunow ebensowenig gemein wie das wirklichkeitstreue »Schlachtbild« der Ouvertüre Anno 1812 mit der Sinfonie Nr. 4.

Mit Eugen Onegin kehrt die russische Oper zurück in die Bahnen der italienischen, deutschen und französischen Tradition, ohne darum aufzuhören russisch zu sein. Und die in dieser Rückkehr verborgene Mahnung ist nicht übersehen worden. Igor Strawinsky, der vielleicht genialste Erbe der russischen Musik, hat in Tschaikowskys Bindung an die Tradition immer ein Vorbild gesehen und dieser Haltung in seiner Oper Marva selber gehuldigt.
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TSCHAIKOWSKY UND TOLSTOI 1876

Tschaikowsky lernte Tolstoi 1876 kennen. Schon bei der ersten Begegnung machte der Dichter auf den Musiker einen außerordentlich tiefen Eindruck. In seinem Tagebuch berichtete Tschaikowsky:

»Als ich die Bekanntschaft Tolstois machte, hatte ich eine namenlose Furcht vor ihm. Es schien mir, als ob dieser große Herzenskenner nur einen Blick auf mich zu werfen brauchte, um in die geheimsten Winkel meiner Seele einzudringen. Seinem Auge konnte - so glaubte ich - auch nicht die geringste Schwäche meines Innern verborgen bleiben. Ich hielt es deshalb für unnütz, besser erscheinen zu wollen, als ich bin.

In Wirklichkeit kam es dann ganz anders. Der größte aller Menschenkenner erwies sich als ein sehr einfaches, liebevolles Wesen, dem gar nichts daran zu liegen schien, jene Allwissenheit, die ich so fürchtete, zu betonen ... Offenbar sah Tolstoi in mir nicht ein Objekt seiner Forschungen, sondern einen Menschen, mit dem er ein wenig über Musik plaudern konnte.«

Bald nach dieser Begegnung wurde im Konservatorium in Moskau zu Ehren Tolstois ein Konzert veranstaltet, in dem unter anderem ein Satz aus Tschaikowskys Streichquartett Nr. 1 zur Aufführung gelangte. »Nie zuvor« - notierte Tschaikowsky später über den Verlauf des Abends - »war mein Ehrgeiz so überaus befriedigt, nie mein Selbstbewußtsein als Tondichter so beglückt wie damals, als Tolstoi, neben mir sitzend, den Klängen meines Andante cantabile lauschte und Tränen über Tränen seinen Augen entströmten.«

Auch Tolstoi hat sich über das Erlebnis des Konzertes in Moskau schriftlich geäußert. Kaum war der Dichter wieder auf seinem Gut, bedankte er sich bei Tschaikowsky: »Gar nichts habe ich Ihnen gesagt von dem, was mich bewegte. Es war aber auch keine Zeit dazu. Ich genoß nur. Mein letzter Aufenthalt in Moskau wird für mich eine der schönsten Erinnerungen bleiben. Noch nie ist mir für meine literarischen Bemühungen ein so schöner Lohn zuteil geworden als an jenem wundervollen Abend.«
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Achtung und Bewunderung durch Tolstoi

Tolstois Brief ist sicherlich mehr als ein bloß liebenswürdiges Dankesschreiben. Man darf in ihm vielmehr einen ehrlichen Ausdruck echter Achtung und Bewunderung sehen. Tatsächlich hat Tolstoi die künstlerischen Anschauungen Tschaikowskys voll und ganz gebilligt. Der Grund dieser Sympathie ist leicht zu erklären.

Tolstoi hatte gegenüber dem Repräsentanten der bürgerlichen Musik in Rußland in keiner Weise den Wunsch kritischer Würdigung und Beurteilung. In Dingen der Musik verhielt er sich nicht anders als die meisten Menschen seiner Zeit. Auch er verstand - genauso wie die Helden seiner Romane - die Musik als eine Folge von einschmeichelnden, rührenden Melodien, als unendliche Sehnsucht und melancholische Selbstbespiegelung, als Flucht in einen schönen, der Wirklichkeit entrückten Traum.

Und plötzlich .... ein begabter wie heruntergekommener Violinvirtuose

Diese Haltung des Dichters wird in seiner frühen Erzählung Albert aus dem Jahre 1857 besonders deutlich. Der Held dieser Erzählung, ein ebenso begabter wie heruntergekommener Violinvirtuose, ist im Leben ein unglückseliges, armes Geschöpf, aber seine Kunst befähigt ihn, sich über seine Schwäche zu erheben und sie wenigstens für eine Weile zu vergessen.

Zu Beginn seiner Erzählung führt Leo Tolstoi den Leser in einen eleganten Salon. Die angesehensten Bürger und Aristokraten der Stadt vertreiben sich hier bei einem kleinen Fest die Zeit. Doch die rechte Stimmung will nicht aufkommen. Allenthalben herrscht Langeweile. Auf einmal drängt sich ein jämmerlich anzuschauender junger Mann in den Saal. Alle Gäste sind von der unordentlichen Erscheinung und dem ungelenken Auftreten des Fremden peinlich berührt. Als dieser jedoch zur Geige greift und in der Musik von sich und seinem Leben klagt, gelingt es ihm, sich selbst und seine Zuhörer zu verzaubern.

»Melancholie G-dur! rief er dem Klavierspieler mit einer befehlenden Handbewegung zu. Gleich darauf lächelte er anmutig, als ob er wegen seines selbstbewußten Benehmens um Entschuldigung bitten wollte, strich nochmals mit der Rechten, welche den Bogen hielt, durch sein Haar, musterte das Publikum mit freundlicher Miene und blieb etwas seitwärts von dem Klavier stehen. Weich und fließend strich er über die Saiten, ein reiner, klarer Ton drang durch das Zimmer, und tiefe Stille trat ein.

Frei und melodisch entströmten die Klänge des Themas den Saiten, indem sie die Seelen der Zuhörer gleichsam plötzlich mit unerwartet klarem, beruhigendem Lichte erhellten. Kein Mißklang, kein allzu starker Ton störte die Andacht der Hörer; alle Töne erklangen klar, schön und inhaltsvoll. Schweigend, in Hoffnung erzittend, folgten alle ihrer Entfaltung.

Aus dem Zustande der Langeweile, der lärmenden Zerstreuung und der seelischen Gleichgültigkeit, in dem sie sich alle soeben noch befunden hatten, waren sie plötzlich und unbemerkt in eine völlig andere, längst vergessene Welt hinübergeführt worden.

Bald bemächtigte sich ihrer Seelen das Gefühl stiller Betrachtung des Vergangenen, bald eine leidenschaftliche, heiße Erinnerung entschwundenen Glücks, bald das Gefühl der Demut, der ungestillten Liebe, der Melancholie. Sanft traurige Töne wechselten ab mit abgerissenen, verzweifelten Klängen und flössen in harmonischem Durcheinander so gleichmäßig, so kraftvoll und dabei so glatt und weich dahin, daß man nicht Töne zu hören vermeinte, sondern den lebensvollen, warmen Strom einer herrlichen, längst bekannten, und doch zum erstenmal ins Bewußtsein tretenden Poesie ... Andächtiges Schweigen herrschte in dem Saal, so lange Albert spielte; alle schienen nur in den Tönen zu leben und zu atmen, die er seinem Instrument entlockte.«

Ohne Frage, in der gleichen Weise wie Leo Tolstois Albert hat auch Tschaikowsky immer wieder versucht, seine Mitmenschen durch die musikalische »Erzählung« seines Lebens und seines Leidens zu bewegen. Das gewaltigste Zeugnis dieser Bemühung ist die großangelegte »Lebensbeichte« der Sinfonie Pathetique.
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ZUR SCHALLPLATTE (Band Nr.3 - Platten Nr.3a und 3b)

Peter Iljitsch Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 6 h-moll, op. 74 »Patheti-que«(1893)

1. Satz: Adagio - Allegro non troppo - Andante
2. Satz: Allegro con grazia
3. Satz: Allegro molto vivace
4. Satz: Finale: Adagio lamentoso - Andante

Es spielt das Berliner Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Walter Jürgens
(AFI Hamburg) - Spieldauer: insgesamt 45 Minuten
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Die Sinfonie Nr. 6 - die Pathetique

Nach der Komposition der Sinfonie Nr. 5, die Tschaikowsky 1888 - erst elf Jahre nach der Vollendung der vierten Sinfonie - schrieb, zeigt das sinfonische Schaffen des Musikers deutlich Merkmale einer tiefgreifenden Verwirrung und Unsicherheit. Mehrmals setzte Tschaikowsky zu einer neuen Arbeit an; nie jedoch vermochte ihn das Resultat seiner Bemühungen zu befriedigen.

Am 12. April 1891 notierte er in einem Skizzenheft zwei Themen für eine Sinfonie in e-moll, die nie weiter ausgeführt wurde. Wenig später entwarf er Programm und Motive für eine Sinfonie in Es-dur mit dem Untertitel »Das Leben«. Aber auch diesmal kam der Komponist nicht über wenige Takte hinaus.

 Wieder machte er von seinen Skizzen keinen weiteren Gebrauch und begann stattdessen einen neuen Versuch. Dabei übernahm er Programm, Titel und Tonart (nicht aber die musikalischen Entwürfe) der Es-dur-Sinfonie "Das Leben".

In der Forschung herrschte lange Zeit die Auffassung, diese zweite Es-dur-Sinfonie sei zwar komponiert, dann aber von ihrem Schöpfer vernichtet worden. In Wirklichkeit hat Tschaikowsky jedoch das Manuskript nur - wie es in einem Brief des Musikers an seinen Neffen W. Dawydow heißt - »beiseitegelegt, um es zu vergessen«.

Vor wenigen Jahren entdeckte der russische Musikwissenschaftler Semion Bogatyrjew im Tschaikowsky-Museum in Klin die Entwürfe zu allen vier Sätzen und rekonstruierte die Partitur. Am 7. Februar 1957, mehr als 50 Jahre nach dem Tode des Komponisten, wurde die zuvor als verschollen angesehene Sinfonie in Moskau uraufgeführt.
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Auch der diesmalige der Erfolg bleibt nur gering

Der Umstand, daß Tschaikowsky die zweite Sinfonie in Es-dur nicht selbst veröffentlichte, spricht allerdings dafür, daß auch sie den ideellen Vorstellungen des Komponisten von einem bestimmten Augenblick an nicht mehr entsprochen hat.

Ab 1890 beabsichtigte Tschaikowsky, seine künstlerische Laufbahn mit einer überragenden Sinfonie zu krönen, um mit ihr gleichsam als seinem geistigen Testament von der Welt Abschied zu nehmen. Im Oktober 1890 gestand er in einem Brief an den Großfürsten Konstantin:

»Ich habe übergroße Lust, eine grandiose Sinfonie zu schreiben, die den Schlußstein meines gesamten Schaffens bilden soll.« Diesem hochgesteckten Ziel vermochte die Sinfonie Das Leben offensichtlich noch nicht zu genügen.

Das Werk, in dem Tschaikowsky dann doch noch seinen großen Plan hat verwirklichen können, gehört in der Tat zu seinen bedeutendsten Kompositionen. Es ist zugleich sein Schwanengesang: seine sechste und letzte Sinfonie, die Pathetique.

Trotz der unsäglichen Mühen, die ihm die Instrumentation seiner Sinfonie bereitete, beendete Tschaikowsky die Partitur verhältnismäßig schnell. Im August 1893 ist die Pathetique abgeschlossen und noch im Oktober des gleichen Jahres wurde sie in Petersburg unter der Stabführung des Komponisten erstaufgeführt.

Wie bei so vielen Premieren von Werken Tschaikowskys bleibt auch diesmal der Erfolg nur gering. Das Publikum ehrt den inzwischen berühmten Künstler, mehr nicht.
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Erst bei der zweiten Aufführung gab es den sensationellen und rauschenden Erfolg

Das Petersburger Publikum gab seine anfängliche Zurückhaltung allerdings bald auf und bereitete schon der zweiten Aufführung einen sensationellen und rauschenden Erfolg.

Der Titel »Pathetique« war von Tschaikowsky keineswegs vorgesehen. Ursprünglich wollte der Komponist seine letzte Sinfonie einfach »Programm-Sinfonie« (d. h. Sinfonie nach einem Programm) nennen. Sein Bruder Modest schlug die Umbenennung vor, und Peter Iljitsch stimmte zu. So erhielt die sechste Sinfonie den Namen, unter dem sie in der ganzen Welt berühmt geworden ist.

Mit der Pathetique erreicht Tschaikowskys Neigung zur melancholischen Bespiegelung der eigenen Person und des eigenen Lebens ihren absoluten Höhepunkt. Hier läßt der romantische Tonkünstler die allgemeine Gefühlsprogrammatik der vierten und wohl auch noch der Es-dur-Sinfonie weit hinter sich, um seine Musik zum unverhohlenen und rückhaltlosen Selbstbekenntnis zu steigern.

Aus »Das Leben« wird »Mein Leben«. »Die Sechste ist« - so formulierte es Franz Zagiba - »nichts anderes als eine musikalische Selbstbiographie, ein Bekenntnis Aus meinem Leben in sinfonischer Sprache.«

Dieser besondere schöpferische Ausgangspunkt konnte natürlich die musikalische Form der Pathetique nicht unbeeinflußt lassen. Tschaikowsky hat hier im Interesse seines Programms das von ihm sonst stets nachgeahmte und eingehaltene Schema der klassischen Sinfonie gesprengt wie nie zuvor. Um den »dichterischen« Zusammenhang deutlich erkennbar zu machen, entwickelt er Einleitung und Finale aus denselben motivischen Elementen. Im Hinblick auf die eigentliche inhaltliche »Aussage« stellt er den langsamen Satz an den Schluß. Um seine poetischen Absichten möglichst klar ausdrücken zu können, verzichtet er innerhalb des einzelnen Satzes auf die strenge Beibehaltung eines einheitlichen Zeitmaßes.

Die häufige Änderung des Tempos charakterisiert vornehmlich den 1. Satz. Das ständige Schwanken zwischen tiefer Verzweiflung und »schönem Träumen«, mutiger Hoffnung und untröstlichem Schmerz, das den Menschen Tschaikowsky kennzeichnet, spiegelt sich in seiner Musik in einem steten Wechsel von Stimmung und Zeitmaß. Dem lastenden Adagio des Beginns folgt ein selbstbewußtes Allegro non troppo. Dieses Allegro wird immer wieder unterbrochen durch die klagende Andante-Melodie des Seitenthemas.

Dem Wechsel von Stimmung und Zeitmaß entsprechen die Umgestaltungen, die das Grundmotiv innerhalb des 1. Satzes erfährt. Das Motiv wird mit Ausnahme des Andante in allen Teilen des I.Satzes aufgenommen. Aber jedesmal erscheint es völlig verwandelt.

In der Adagio-Einleitung erklingt es in den tiefen Instrumenten voll düsterer Melancholie, Schwermut und ohne Hoffnung. Im Allegro non troppo steigt es dagegen aus den dunklen Regionen der Bässe empor. Die Violen (Bratschen) übernehmen es vom Fagott, die Violinen tragen es fort und verwandeln die zuvor hoffnungslose Klage in aufbegehrenden, mutigen Trotz. Die Durchführung, die ein gewaltiger Forte-Schlag des gesamten Orchesters eröffnet, stellt diese verschiedenen Haltungen gegenüber.

Ein gewaltiges Ringen setzt ein. Die beiden »Möglichkeiten« des Grundmotivs geraten in Konflikt. Resignierende Klage und trotziges Ungestüm stehen unmittelbar nebeneinander. Bis in die Wiederaufnahme des Andante hinein wütet der Kampf. Und dennoch ist das Aufbegehren umsonst. In der Coda künden Trauermarschmotive der Bläser über dumpfen Schritten der gezupften Streicher, daß das Ringen um Selbstbehauptung vergebens war.

Im 2. und 3. Satz

Im 2. Satz (Allegro con grazia) löst sich die lastende Schwere scheinbar völlig auf. Und doch behält die aufkommende Heiterkeit einen Schimmer von Gefährdung. In der gleichen Weise wie der Tondichter zuvor das Pathos bis an die Grenze des Möglichen und auch darüber hinaus treibt, überzieht er nun die Fröhlichkeit. Er wählt für den 2. Satz den äußerst ungewöhnlichen Fünf -Viertel -Takt. Natürlich gibt es für diese Taktform zahlreiche Beispiele in der russischen Volksmusik.

In der Pathetique hat sie jedoch sicher nicht nur folkloristische Bedeutung. Indem im Grunde unruhig zwischen Zweier- und Dreierrhythmus schwankenden Fünf-Viertel -Takt haftet auch noch dem Scherz etwas Dämonisches an. Diesem Takt fehlt die unbekümmerte Sicherheit des Walzers ebenso wie das kernige Selbstbewußtsein des Marsches. Für Ausgewogenheit und ungestörte Ruhe bleibt ein Viertel zu viel. Das aufleuchtende Glück steht auf unsicherem Grund.

Der 3. Satz (Allegro molto vivace) behält die gelöste Stimmung bei, ja verstärkt sie noch. Wie schon im I.Satz geht es um den Kampf eines Themas um seine Behauptung. Diesmal gelingt allerdings ein Sieg. Zunächst erscheint das Thema nur schüchtern und scheu in den Holzbläsern. Langsam vermag es jedoch das gesamte Orchester zu gewinnen. Selbstbewußt strebt es marschartig vorwärts und mündet in eine gewaltige Bestätigung seiner selbst.

Aber auch dieser Triumph ist Täuschung. Das Adagio lamentoso des
Finale nimmt die dunkle und schwere Klangfärbung des Anfangs wieder auf. Alles Vergangene scheint nun einbezogen in hoffnungslosen Schmerz. Die düstere Sphäre und die tiefe Instrumentation, aus der sich der 1. Satz erhebt, kehrt unversöhnt zurück.

Die Pathetique schließt so in trostloser Bitterkeit: Melodie und Dynamik lösen sich auf. Jeder Gefühlsausdruck, alle Kraft erlischt. Hoffnungslos und voller Schmerz scheidet der Künstler von Dasein und Werk. Neun Tage, nachdem Tschaikowsky die Uraufführung seiner letzten Sinfonie selber geleitet hatte, erschütterte die musikinteressierte Weltöffentlichkeit die Nachricht von seinem Tod.
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Nachtrag 1 - Slawischer Marsch b-moll für Orchester, op. 31

Peter Iljitsch Tschaikowsky, Slawischer Marsch b-moll für Orchester, op. 31 (1876)
Es spielt das Berliner Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Walter Jürgens (AFI Hamburg)
Spieldauer: 9 Minuten

Tschaikowsky komponierte zu verschiedenen Anlässen mehrere Orchestermärsche. Es handelt sich dabei fast immer um Auftragswerke zur Feier wichtiger Ereignisse der Zeit. Der slawische Marsch op. 31, der im September 1876 entstand, wurde für ein Benefiz-Konzert zugunsten der Verwundeten des serbisch-türkischen Krieges geschrieben. Im Interesse des vaterländischen Themas verwebt Tschaikowsky zahlreiche Motive aus, der Volksmusik in seine Partitur. Den Beginn entwickelt er aus einer serbischen Liedweise und im Mittelteil schildert er die Heiterkeit eines ländlichen Bauernfestes. Im Zentrum des Schlusses steht die Zarenhymne, die - nach einer Wiederholung des Eröffnungsthemas - das gut gebaute Stück beendet.

Nachtrag 2 - »Anno 1812«, Festouvertüre für Orchester, op. 49

Peter Iljitsch Tschaikowsky, »Anno 1812«, Festouvertüre für Orchester, op. 49 (1880)
Es spielen die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Heinrich Hollreiser (VoxPL11960) Spieldauer: 12 Minuten

Die Festouvertüre »Das Jahr 1812« ist ein Auftragswerk der Panrussischen Ausstellung der Künste und des Handwerks in Moskau und wurde am 20. August 1882 zum erstenmal aufgeführt. Sie versucht den berühmten Rußlandsfeldzug Napoleons zu schildern und bildet mit diesem realistischen Programm den genauen Gegensatz zu den romantischen Gefühlsinhalten von Tschaikowskys Sinfonien. Die langsame Einleitung versinnbildlicht das Gebet der Russen um Befreiung von den Heerscharen Napoleons.

Ein überraschender Schlag des gesamten Orchesters eröffnet sodann den Hauptteil der Ouvertüre: den Tumult der Schlacht. Den Russen zieht die vaterländische Hymne »Gott sei des Zaren Schutz« voran, die Franzosen halten sich an die »Marseillaise«. Zunächst behalten die Franzosen und die »Marseillaise« die Oberhand, doch dann wendet sich das Glück der Waffen. Unter dem Donner der Kanonen und dem Geläut der (Kreml-)Glocken erhebt sich strahlend und siegreich der Sang: »Gott ist des Zaren Schutz.«

Nr. 3 A (Langspielplatte 1) Nr. 3

PETER ILJITSCH TSCHAIKOWSKY- III

Sinfonie Nr. 6 h-moll, op. 74 »Pathltique«
1. Satz: Adagio - Allegro non troppo
2. Satz: Allegro con grazia
3. Satz: Allegro molto vivace

Es spielt das Berliner Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Walter Jürgens
Die Langspielplatte kann auf Stereo- und Monogeräten abgespielt werden. Zur größtmöglichen Schonung und Wahrung der hohen Qualität wird empfohlen, den Tonabnehmer behutsam aufzusetzen und abzuheben. Abspielgerät, Platten und Saphir immer sauber und staubfrei halten!
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Modest Tschaikowsky schreibt im April 1907 an den Preßburger Stadtarchivar Johann Batka :

Sie fragen mich nach einer Erklärung der Pathetique - aber leider, lieber Freund, kann ich es Ihnen niemals so mitteilen, wie es mein Bruder im Kopfe hatte. Er hat das Geheimnis mit sich ins Grab genommen.

Wenn Sie aber jenes Programm hören wollen, das ich mir gebildet habe und das, wie mir scheint, nach alledem, was ich von meinem Bruder auch darüber erfahren habe, zweifellos die wahrscheinlichste Deutung enthält, dann schreibe ich es folgendermaßen nieder:

Der erste Teil stellt sein Leben dar, jene Mischung aus Schmerzen, Leiden und der unwiderstehlichen Sehnsucht nach dem Großen und Edlen, einerseits von Kämpfen und Todesängsten, anderseits von göttlichen Freuden und himmlicher Liebe zum Schönen, Wahren und Guten in allem, was uns die Ewigkeit an Himmelsgnaden verspricht.

Der zweite Satz stellt meiner Meinung nach die flüchtigen Freuden, seines Lebens dar - Freuden, die den gewöhnlichen Vergnügungen anderer Menschen nicht zu vergleichen sind und die infolgedessen in dem ganz ungewöhnlichen Fünfvierteltakt ausgedrückt werden.

Der dritte Satz schildert die Geschichte seiner musikalischen Entwicklung. Sie war nichts als Tändelei, eine Art Zeitvertreib und ein Spiel am Beginn seines Lebens - bis zu zwanzig Jahren -, dann aber wurde sie immer ernster und endete schließlich ruhmbedeckt. Das drückt der Triumphmarsch am Schluß aus.

Der vierte Satz stellt seinen Seelenzustand während der letzten Lebensjahre dar - die bittere Enttäuschung und den tiefen Schmerz darüber, daß er erkennen mußte, wie selbst sein Künstlerruhm vergänglich und nicht imstande war, sein Grauen vor dem ewigen Nichts zu lindern, jenes Nichts, das alles, was er liebte und was er Zeit seines Lebens für ewig und andauernd hielt, unerbittlich und für immer zu verschlingen drohte.

Modest Tschaikowsky in seinem Bericht über das Leben seines Bruders:

Am folgenden Morgen (das heißt am Morgen nach der Uraufführung der sechsten Sinfonie in Petersburg) fand ich, als ich zum Frühstück ins Zimmer kam, Peter Iljitsch mit der Partitur der Sechsten Sinfonie in der Hand am Teetisch sitzend.

Nach einer getroffenen Vereinbarung mußte er sie noch am gleichen Tage an Jürgenson nach Moskau schicken und dachte nun darüber nach, wie er sie denn eigentlich nennen sollte. Sie ganz ohne Namen lassen und nur mit einer Nummer versehen, das wollte er auch nicht, und der Name »Programmsinfonie« gefiel ihm ebenfalls nicht mehr.

Was heißt Programmsinfonie, sagte er zu mir, wenn ich doch kein Programm dazu geben will! Ich machte ihm daraufhin den Vorschlag, sie »Tragische Sinfonie« zu nennen, was ihm aber gleichfalls mißfiel. Ich verließ bald darauf das Zimmer, bevor Peter Iljitsch noch zu einem Entschluß gekommen war. Da fiel mir plötzlich die Bezeichnung »pathetisch« ein.

Sogleich kehrte ich wieder ins Zimmer zurück - ich erinnere mich noch so deutlich daran, als ob es erst gestern gewesen wäre! - und schlug sie Peter Iljitsch vor, worauf dieser begeistert ausrief: Ausgezeichnet, Modi, bravo! Pathetische - und dann fügte er in meiner Gegenwart in der Partitur den Titel ein, durch den die Sinfonie überall bekannt geworden ist.

Peter Iljitsch Tschaikowsky am 30. Oktober 1893 an seinen Verleger Jürgenson:

Dieser Sinfonie geht es ganz merkwürdig. Sie hat nicht gerade mißfallen, aber doch einiges Befremden erweckt. Was mich selbst betrifft, so bin ich stolzer auf sie als auf irgendeine andere meiner Kompositionen.
JT

Nr. 3 B (Langspielplatte 2) Nr. 3

PETER ILJITSCH TSCHAIKOWSKY - III
Sinfonie Nr. 6 h-moll, op. 74 »Pathetique«
4. Satz: Adagio lamentoso - Andante • Slawischer Marsch b-moll für Orchester, op. 31
Es spielt das Berliner Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Walter Jürgens.

»Anno 1812«, Festouvertüre für Orchester, op. 49. Es spielen die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Heinrich Hollreiser.

Die Langspielplatte kann auf Stereo- und Monogeräten abgespielt werden. Zur größtmöglichen Schonung und Wahrung der hohen Qualität wird empfohlen, den Tonabnehmer behutsam aufzusetzen und abzuheben. Abspielgerät, Platten und Saphir immer sauber und staubfrei halten!

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