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DIE GROSSEN MUSIKER Nr.5
PETER ILJITSCH TSCHAIKOWSKY • Band V

INHALT  
A Text- und Bildteil:  
Bruch mit der Freundin Seite 49
Im Banne des Todes Seite 52
Tschaikowsky, ein russischer Romantiker Seite 56
Peter Tschaikowsky und seine Zeit Seite 58
Kurzbibliographie Seite 59
Zur Schallplatte Seite 60
B Die Langspielplatte:  
Violinkonzert D-dur op. 35  

Die grossen Musiker - Einführung Teil 5

Die neue Musikzeitschrift aus dem Bastei-Verlag • Mit Langspielplatte • © 1966 für alle Länder Fabbri, Mailand • Deutsche Lizenzausgabe 1967 des Originaltitels »I Grandi Musicisti« • Alle Rechte der deutschen Ausgabe und der deutschen Texte: Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, 507 Bergisch Gladbach • Redaktion: Günther Jäkel und Leo Karl Gerhartz • Musikwissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Günther Massenkeil, Bonn, und Privatdozent Dr. Klaus Wolfgang Niemöller, Köln • Übersetzung: Leo Karl Gerhartz • Herstellung: Horst Scholz • Satz: Druckerei Gustav Lübbe • Druck: Fratelli Fabbri, Mailand • Printed in Italy.

Das Titelbild zeigt den berühmten russischen Violin-Virtuosen David Oistrach, den Solisten der diesem Band beigefügten Schallplatten- aufnahme (Ullstein- Bilderdienst - dpa).
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Die diesem Band beigefügte Langspielplatte bringt die ungekürzte Aufnahme von Peter Iljitsch Tschaikowsky

  • KONZERT FÜR VIOLINE UND ORCHESTER D-DUR OP. 35
    1.Satz: Ailegro moderato
    2.Satz: Canzonetta - Andante
    3. Satz: Finale: Ailegro vivacissimo


Es spielen David Oistrach und das Orchester des Moskauer Bolschoi- Theaters
unter der Leitung von Samuel Samosud - Spieldauer: 30 Minuten - 5 DM
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David Oistrach wurde am 20. November 1908 in Odessa geboren. Schon mit 16 Jahren begann er in Rußland als Violinist zu konzertieren. Seit 1934 lehrt er am Konservatorium in Moskau. Im Westen wurde David Oistrach erst nach 1955 als einer der hervorragendsten und größten Violinvirtuosen der Welt bekannt, dessen geistige Durchdringung eines Werkes ebenso fasziniert wie seine technische Brillanz.

Die Langspielplatte kann auf Stereo- und Monogeräten abgespielt werden. Zur größtmöglichen Schonung und Wahrung der hohen Qualität wird empfohlen, den Tonabnehmer behutsam aufzusetzen und abzuheben. Abspielgerät, Platten und Saphir immer sauber und staubfrei halten!
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BRUCH MIT DER FREUNDIN

Im Sommer 1890 war Peter Tsdiaikowsky in Südrußland. Im September reiste er in bester Stimmung nach Armenien, dessen kaukasische Landschaft ihm in den letzten Jahren mehr und mehr ans Herz gewachsen war. Besonders gefiel ihm Tiflis. Hier gedachte er, einen schönen und geruhsamen Herbst zu verbringen.

Doch da ereilte den russischen Tondichter eine ebenso überraschende wie erschütternde Katastrophe: Frau von Meck, die unsichtbare Gefährtin seit nunmehr dreizehn Jahren, »kündigte« ihrem Briefpartner die Freundschaft.

Schon seit einiger Zeit hatten sich die eigenartigen Bande zwischen Peter Iljitsch und Nadjeshda Philaretowna von Meck zu lösen begonnen. Jetzt kam es zum endgültigen Bruch. In einem Brief vom 25. September 1890 teilte Frau von Meck Tsdiaikowsky mit, ihre schwierigen und zerrütteten Vermögensverhältnisse erlaubten es ihr in Zukunft nicht, den üblichen Monatswechsel zu überweisen. Und diese Mitteilung verband sie mit einem unüberhörbaren Lebewohl: »Vergessen Sie mich nicht, erinnern Sie sich zuweilen meiner.«

Nun konnte Tsdiaikowsky auf den Monatswechsel der Freundin leicht verzichten. Die Erfolge als Orchesterdirigent und die wachsende Verbreitung seiner Werke hatten ihn inzwischen finanziell unabhängig gemacht.

Den Komponisten beunruhigte auch nicht die Nachricht, daß er kein Geld mehr erhalten sollte. Was ihn kränkte, ja zutiefst verletzte, war vielmehr der Ton des Briefes. Zweifellos: Dies war ein Abschiedsbrief fürs ganze Leben.

Sofort bestürmte Tsdiaikowsky die Freundin, ihre Bindung durch die Streichung des Monatswechsels nicht beeinflussen zu lassen:

»Die Schlußworte Ihres Briefes haben mich ein wenig gekränkt, aber ich kann nicht glauben, daß Sie diese ernst gemeint haben. Glauben Sie denn wirklich, daß ich nur dann an Sie denke, wenn ich von Ihnen Geld bekomme? Wie könnte ich auch nur für einen Augenblick vergessen, was Sie alles für mich getan haben und was ich Ihnen alles verdanke? Ich kann ohne jede Übertreibung behaupten, daß Sie mich gerettet haben und daß ich wahnsinnig geworden und untergegangen wäre, hätten Sie mich nicht durch ihre Freundschaft gerettet.

Ihre Teilnahme und Ihre wirtschaftliche Unterstützung - die damals allerdings mein Rettungsanker war! - haben meine Willenkraft und meine Lebenslust von neuem entfacht, auf dem einmal begonnenen musikalischen Wege weiter fortzuschreiten. Nein, liebe Freundin, bis zu meinem letzten Atemzuge werde ich an Sie denken und Sie dafür segnen! Ich bin froh und glücklich darüber, daß ich gerade jetzt, da Sie Ihren Reichtum nicht mehr mit mir teilen können, Ihnen meine grenzenlose und leidenschaftliche, in Worte gar nicht zu fassende Dankbarkeit aussprechen kann. Sie können wahrscheinlidi selbst die ganze Unermeßlichkeit Ihrer Wohltaten gar nicht ermessen. Denn könnten Sie es, dann wäre es Ihnen wohl niemals eingefallen, mir zu schreiben, ich würde nunmehr - da Sie arm geworden sind - höchstens zuweilen an Sie denken.

Ohne jede Übertreibung kann ich vielmehr sagen, daß ich Sie in Wahrheit nie vergessen habe und auch nie vergessen werde, denn sooft ich an mich selbst denke, begegnen meine Gedanken unvermeidlich auch Ihren.«
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Es kam keine Antowort mehr ......

Dieser aufrichtige Brief blieb jedoch ohne Antwort. Das Schreiben vom 25. September 1890 ist das letzte, das Peter Iljitsch von Nadjeshda erhalten hat. So mußte der Musiker zwangsläufig den Eindruck gewinnen, seine langjährige Wohltäterin habe ihre Vermögensschwierigkeiten nur als Vorwand benutzt, um die Beziehungen zu ihm abzubrechen.

Diese Ahnung wurde bald zur bestürzenden Gewißheit. Als Tschaikowsky von Tiflis nach Moskau zurückgekehrt war, erfuhr er, die Geldsorgen von Frau von Meck seien kaum nennenswert, von beträchtlichen Vermögensverlusten könne jedenfalls nicht die Rede sein.

Diese Nachricht traf Tschaikowsky wie ein Keulenschlag. Schon der Gedanke, daß Nadjeshda glauben könnte, nur ihr Geld binde ihn an sie, hatte den empfindsamen Künstler verletzt. Die Erkenntnis, daß Frau von Meck ihre Briefbeziehung zu ihm unwiderruflich beenden wollte, stürzte ihn in tiefe Verzweiflung.

Diese brüske Abwendung der Partnerin verdüsterte Tschaikowskys letzte Lebensjahre schwer. Im Grunde hat sich der Künstler von der seelischen Enttäuschung, die dieser Bruch für ihn bedeutete, nicht mehr erholt. Er fand seine Zweifel an sich und am Leben jetzt vollkommen und endgültig bestätigt.

Immer unheilbarer lasteten nun die trüben Schatten der Schwermut auf seiner Seele. Über die Gründe, die Frau von Meck veranlaßten, sich von Tschaikowsky zurückzuziehen, ist viel gerätselt worden. Nie ist es jedoch gelungen, sie restlos aufzuklären.
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Das Leiden der alternden Witwe ????

Professor Antoine Cherbuliez hat in seinem Buch »Tschaikowsky und die russische Musik« (Zürich 1948) Nadjeshdas Krankheit in den Vordergrund gestellt.

Alle Bitten des Musikers, die Freundin möge die Briefbeziehung zu ihm wieder aufnehmen, beantwortete Nadjeshdas Schwiegersohn Pachulski mit dem Hinweis, Frau von Meck sei krank und müsse vor jeder Aufregung und starken Gefühlsbewegungen geschützt werden. Tatsächlich litt Nadjeshda von Meck in ihren letzten Lebensjahren an einem schweren Nervenleiden. Dieses Leiden hat das Verhalten der alternden Witwe gegenüber Tschaikowsky sicherlich stark mitbestimmt. Ob es allein die plötzliche Trennung zu erklären vermag, erscheint allerdings zumindest fraglich.

Andere Forscher haben darum noch weitere mögliche Ursachen erwogen. Die weitaus interessanteste und wohl auch einleuchtendste Erklärung hat Kurt von Wolfurt in seiner Biographie »Peter Iljitsch Tschaikowsky, Bildnis des Menschen und Musikers« (Zürich 1952) versucht.

Tschaikowskys geschlechtliches Empfinden - darauf wurde wiederholt hingewiesen - war anormal. (Anmerkung : Tschaikowsky war schwul.) Der russische Musiker hat den männlichen Eros ganz ähnlich wie die Griechen des Perikleischen Zeitalters auf gefaßt.

So intim und persönlich der Gedankenaustausch zwischen Peter Iljitsch und Nadjeshda Philaretowna aber auch war, hiervon wußte Frau von Meck (Anmerkung : vermutlich) nichts.

Wolfurt sieht deshalb das entscheidende Motiv für ihren plötzlichen Rückzug in einer (möglicherweise entstellten) Information über die anormalen erotischen Neigungen des Freundes. Wolfurt schreibt:

»Frau Nadjeshda hatte von Tschaikowskys besonderer Veranlagung keine Ahnung. Sie war die liebende Frau, die von verzehrender Eifersucht erfaßt wurde, als Peter ihr alle näheren Umstände seiner Heirat mitteilte. Und sie atmete auf, als diese Ehe zerbrach. Sie selbst gesteht, daß sie Peters Frau gehaßt habe.
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Wenn platonische Liebe in Haß umschlägt ...... ?

Ob sie jetzt ähnliche Gefühle bestürmen? Wir wissen es nicht. Dreizehn Jahre lang hatte sie liebevoll ein ganz bestimmtes Bild ihres vergötterten Freundes in ihrem Herzen getragen und dieses Bild gehütet wie einen Schatz.

Unterdessen sind ihre zahlreichen Kinder herangewachsen, die meisten haben sich verheiratet, so daß die Zahl ihrer nächsten Verwandten sich beträchtlich vermehrte. Allen diesen Kindern, Schwiegersöhnen und Schwiegertöchtern waren ihre Beziehungen zu Peter Iljitsch bekannt. Sie wußten auch um Tschaikowskys Veranlagung, denn schon längst hatte in Petersburg und Moskau der gemeine Klatsch sich dieser Dinge bemächtigt, um so mehr, als Peter eine Weltberühmtheit geworden war.

Frau Nadjeshdas Kinder wußten auch, daß er, der russische Meister, gewaltige Gelder verdiente, seitdem sein Ruhm sich so verbreitet hatte. Sie (die Kinder), die nie mit ihren Einnahmen auskamen, und zu Frau Nadjeshdas Verzweiflung ihr Geld vergeudeten, haben ihr unzweifelhaft Vorhaltungen darüber gemacht, daß sie dem Freunde immer noch jene Rente zahle, obgleich er selbst im Reichtum schwimme.

Bis 1890 haben diese Vorhaltungen nichts gefruchtet, sie hielt dem Freunde die Treue. Nun aber kam der Tag, an dem Frau Nadjeshda von ihren Kindern über Peters Veranlagung rückhaltlos aufgeklärt wurde. Man kann sich die Wirkung dieser Enthüllung, diese plötzliche Erkenntnis einer ihr bisher verborgenen Tatsache, nicht vernichtend genug vorstellen. Diese Erkenntnis muß sie wie ein Blitzschlag getroffen haben: als ob unerwartet vor ihren Augen ein Vorhang zur Seite gerissen würde, hinter dem sich ungeahnte Abgründe auf taten.

Für sie, diesen despotischen, schroffen, leidenschaftlichen Herrenmenschen, gab es keine Konzessionen. So schnell und stürmisch sie damals bereit war, unter dem Einfluß der Musik ihres Freundes als völlig Besessene ihr Liebesgeständnis ungehemmt hinauszuschleudern, ebenso schnell und rücksichtslos faßte sie jetzt den Entschluß, alle Brücken für immer abzubrechen. So, und nur so, kam ihr letzter Brief an Peter Iljitsch vom September 1890 zustande ...«

Ohne Zweifel vermag dieser Deutungsversuch von Kurt Wolfurt zu überzeugen. Ob er die Wahrheit trifft, kann allerdings nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden. Die merkwürdige »Briefliebe« zwischen Peter Iljitsch Tschaikowsky und Nadjeshda Philaretowna von Meck, die die künstlerische Arbeit des russischen Tondichters dreizehn Jahre lang begleitete und die Entstehung vieler seiner Werke nachhaltig beeinflußte, endete mithin ebenso seltsam wie sie begann und wie sie verlief.

IM BANNE DES TODES

Die Trennung von Nadjeshda von Meck eröffnet den letzten Akt im irdischen Dasein Peter Tschaikowskys. Immer folgerichtiger und immer verhängnisvoller bewegt sich nun das Leben des russischen Tondichters auf sein Ende zu.

Alles um ihn herum gerät in Auflösung. Viele seiner Angehörigen und Freunde sterben. Tschaikowsky wird einsam. Wie immer nach schweren persönlichen Schicksalsschlägen sucht Peter Iljitsch auch nach dem Abschied von Frau von Meck Trost in seiner Kunst. Bald jedoch erfaßt sein unheilbares Lebensleid auch sein Schöpfertum.

Die einaktige Oper "Jolanthe" (1891) und das Ballett "Der Nußknacker" (1891/92) entstehen hoch verhältnismäßig unproblematisch. In den Bemühungen um die Komposition einer Sinfonie "Das Leben", in dem unvollendeten Klavierkonzert Nr. 3 und in der vollendeten Bekenntnismusik der Sinfonie "Pathetique" dringt dagegen die Krise des Menschen immer tödlicher in das Werk des Künstlers. Das Erschlaffen jeden Willens zum Leben wird hier zu einer nun nachgerade verzweifelten Melancholie; Lebensüberdruß und Lebensmüdigkeit steigern sich zum melodisch ungehemmten Ausdruck tiefer Qual.
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Die Pathetique

Der Höhepunkt dieser zwangsläufig auf den Tod zustrebenden Entwicklung ist der letzte Satz der sechsten Sinfonie h-moll - das berühmte Adagio lamentoso der Pathetique. Alles scheint hier klar und unwiderruflich wie der Augenblick des Todes. Bestürzend und erschreckend treibt alles dem Nichts zu. Jeder Klang, alle musikalische Kraft hebt sich auf. Die Musik stirbt.

Tschaikowsky hat die Unerbittlichkeit, mit der sein Leben und seine Kunst in den Strudel des Todes gerieten, deutlich gespürt. In einem Brief, den er in seinem letzten Lebensjahr an einen Freund geschrieben hat, gestand er:

»Ich befinde mich in einem sehr seltsamen Seelenzustand, einem Zustand, der zum Grabe führt. Es geschieht mit mir etwas ganz und gar Ungewöhnliches, etwas, das ich nicht verstehe. Eine Art Ekel schüttelt mich. Ich leide an einer erbärmlichen Niedergeschlagenheit, an einem Schmerz, der nicht den geringsten Lebenswillen erzeugt, sondern nur Verzweiflung ...«

Und in einem anderen Brief aus der gleichen Zeit an den geliebten Neffen Bobyk heißt es:

»Es ist eigenartig zu bemerken, daß meine Sinfonie (gemeint ist die Pathetique) einen Charakter hat, der demjenigen eines Requiems sehr verwandt ist - ganz besonders in ihrem Schluß teil.«

Tschaikowsky hat in der Tat im Schlußsatz der Pathetique sein eigenes Sterben vorweggenommen. Sein wirklicher Tod erscheint dem heutigen Betrachter nur die äußere Folge eines künstlerisch bereits vollzogenen Geschehens.

Eine Reise nach Brüssel und Paris

1893, das Todesjahr Tschaikowskys, beginnt mit einer Reise nach Brüssel und Paris. Die ersten Einfälle für die Sinfonie Pathetique versetzen den Komponisten in schöpferische Erregung. Die Begeisterung für das neue Werk wird allerdings von Anfang an von tiefer Verzweiflung begleitet:

»Ich möchte Dir mitteilen, daß ich mich infolge meiner Arbeit in einer sehr angenehmen Stimmung befinde ... Während der Reise faßte ich den Gedanken einer neuen Sinfonie, diesmal einer Programmsinfonie ... Das Programm ist durch und durch subjektiv, und ich habe nicht selten während meiner Wanderungen, sie in Gedanken komponierend, bitterlich geweint.«

Und in einem Brief an seinen Neffen stehen die Sätze: »Ich leide in einer Weise, die in Worten nicht mehr auszudrücken ist. Unsagbare Ängste foltern mich.«

Auch große Erfolge in der Welt vermögen das Leid des Musikers nicht zu beseitigen. Fünf glanzvolle Konzerte, die Tschaikowsky im Februar 1893 in Odessa dirigiert, verstärken sogar noch seine Niedergeschlagenheit:

»Niemals bin ich vom Dirigieren so erschöpft gewesen wie in Odessa. Andererseits bin ich aber auch nirgends so gerühmt und gefeiert worden. Allerdings habe ich solche Erfolge im Grunde nicht mehr nötig. Was ich nötig habe, das ist, wieder an mich selbst glauben zu können, denn mein Selbstvertrauen ist schwer erschüttert, und es scheint mir, daß meine Rolle ausgespielt ist.«
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Die Würde eines Doctor musicae - ein Ehrendoktor

Im März und April ist Tschaikowsky wieder in der Heimat. Auf seinem Landgut Frolowskoje bei Klin - dem bevorzugten Aufenthaltsort seiner letzten Lebensjahre - versenkt er sich ganz in die Komposition seiner letzten großen Sinfonie. Neben der anstrengenden Arbeit an der Pathetique verfaßt er gleichsam zur Erholung die virtuosen "Achtzehn Klavierstücke op. 72" und die "Sechs Lieder des Opus 73".

Im Juni 1893 unternimmt Tschaikowsky seine letzte Reise ins Ausland. Über Moskau, wo er voller Zufriedenheit die Oper Aleko des jungen Sergej Rachmaninow hört, und über Petersburg fährt er nach England. Zusammen mit dem Deutschen Max Bruch, dem Franzosen Camille Saint-Saens und dem Norweger Edward Grieg war der russische Musiker von der altehrwürdigen Universität Cambridge eingeladen worden, um dort ehrenhalber die Würde eines Doctor musicae zu empfangen.

Bei dem Festkonzert am 12. Juni, das der Musikdirektor der Universität Cambridge leitete, wurde von jedem der Geehrten ein Werk aufgeführt. Von Tschaikowsky spielte man die Orchester-Fantasie op. 32 Francesca da Rimini. Einen Tag nach diesem Konzert fand die feierliche Zeremonie der Ehrenpromotion statt.

Es geht wieder aufwärts mit dem Gemüt

Der Besuch Englands verbesserte den Gemütszustand Tschaikowskys wenigstens für eine Weile. Die zugleich zurückhaltende und herzliche Höflichkeit der Briten tat dem menschenscheuen, unruhigen und bereits von Todesängsten bedrückten Musiker sehr wohl:

»Die Erinnerung an meinen Aufenthalt in England und an die außerordentliche Gastfreundschaft, die ich dort angetroffen habe, ist mir sehr angenehm.«

Zurückgekehrt nach Frolowskoje, geriet Tschaikowsky jedoch sofort wieder in den Todesbann seiner Pathetique. In den letzten Tagen des August vollendete er die Partitur, in die er sein ganzes Selbst gelegt hatte. Mitte Oktober brach er nach Petersburg auf, um die Uraufführung seiner sechsten Sinfonie zu dirigieren.

Noch bevor Tschaikowsky Petersburg erreichte, war er bereits vom Tode gezeichnet. Seine Gedanken kreisten immer wieder um sein baldiges Sterben. Auf der Durchreise in Moskau vertraut er seinem Freund und Kollegen Tanejew seinen innigen Wunsch an, in der friedlichen Stille von Frolowskoje begraben zu werden.
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Häufig geistesabwesend und zerstreut

Auch während der Proben für die Uraufführung der Pathetique ist Tschaikowsky häufig geistesabwesend und zerstreut. Die Musiker des Orchesters haben mit dem sonst so fähigen Dirigenten einen schweren Stand. Nichts können sie ihm recht machen. Entweder ist Tschaikowsky mürrisch und unzufrieden, oder aber er befindet sich in einer ganz anderen, nicht mehr irdischen Welt.

Die im übrigen nur mäßig erfolgreiche Premiere der Pathetique blieb Tschaikowskys letzte künstlerische Tat. Nachdem der Komponist die Sinfonie, die ihm Lebensbeichte und Testament war, zum Erklingen gebracht hatte, fand er keinen neuen Antrieb zum Leben mehr.

Tschaikowsky lebte immer nur, in und mit seiner Musik. In einem Brief an Frau von Meck schrieb er einmal:

»Man müßte verzweifeln, gäbe es nicht die ewige Trösterin, die Musik. Sie ist wahrhaftig das größte Geschenk des Himmels an die in der Düsternis dieser Welt befangene Menschheit. Allein die Musik erleuchtet die Welt, versöhnt die Menschen und schenkt Frieden. Sie ist ein Freund, der schützt und stärkt. Nur für diesen Freund lohnt sich die Mühe des Lebens.«

Mit der Pathetique führte Tschaikowsky seine Kunst bis zu einer Grenze, über die hinaus es für ihn keine Möglichkeit der Weiterentwicklung mehr gab. Damit hatte er Lebenskraft und Lebensinhalt eingebüßt. Todessehnsucht ergriff ihn.

1893 - das Jahr der Cholera in Petersburg

Im Jahr 1893 wütete in Petersburg die Cholera. Für die Bevölkerung war das kein besonderer Grund zur Panik. Sie hatte sich an solche Epidemien gewöhnen müssen. Immerhin war es unerläßlich, einige Vorsichtsmaßregeln zu beachten.

Vor allem war es wichtig, das aus dem Nevastrom gewonnene Trinkwasser vor dem Genuß abzukochen.Tschaikowsky setzte sich über dieses Gebot der Vernunft hinweg. Mutwillig und mit dem Schicksal spielend, trank er das Nevawasser ungekocht. Bald darauf traf ihn die gefährliche Krankheit, der schon vor fast vierzig Jahren seine Mutter zum Opfer gefallen war.

Zwei berühmte Ärzte bemühten sich um den todkranken Komponisten. Dieser aber blieb allen Heilungsversuchen gegenüber vollkommen gleichgültig. Er leistete seinem Leiden nicht nur keinen Widerstand, er gab sich ihm vielmehr voll und ganz hin.

»Ich erkenne den Tod«, sagte er gelassen, und hin und wieder rief er - voller Schmerz und Zorn - den Namen der einstigen Freundin, den Namen Nadjeshdas von Meck. Sonst schwieg der Sterbende.

Am 5. November schwanden seine Kräfte.

Der Lieblingsneffe Bobyk und die Brüder Modest und Nicolai wachten am Sterbebett. Zwischen drei und fünf Uhr, am Morgen des 6. November 1893, beendete Peter Iljitsch Tschaikowsky seinen irdischen Lebensweg.

Um die Frage, weshalb Tschaikowsky das ungekochte Nevawasser getrunken hat, ist viel gerätselt worden. Handelte der Musiker nur aus Vergeßlichkeit und Zerstreutheit, oder steckte hinter seinem Tun eine Absicht? Einen unumstößlichen Beweis gibt es weder für die eine noch für die andere Möglichkeit.

Die Entwicklung seiner Kunst zur Selbstauflösung hin, seine von depressiven Angstzuständen und Wahnideen geschüttelte menschliche Natur sprechen allerdings dafür, daß Tschaikowsky den Tod gesucht hat.

Tschaikowskys Leben war ein unendliches, unkontrolliertes Sichverströmen. Ein ungebändigtes Sichverlieren an weitgespannte Melodien bildet das Zentrum seiner Kunst. Das Verlöschen der Pathetique und das physische Sterben ihres Schöpfers bringen in dieser Hinsicht eine letztmögliche Steigerung.

Hier wird der Wunsch, sich hinzugeben, zum wahnsinnigen Begehren, die eigene Hingabefähigkeit durch das Höchste zu beweisen: durch die Aufopferung der eigenen Kunst und des eigenen Lebens.

Ein romantisches Leben, das Leben Tschaikowskys. Ein romantischer Tod, sein Tod. Auch noch im Tode ist der russische Tondichter nichts als nur unendliches Sichverlieren, unendliche Sehnsucht, unendliche Hingabe, unendliches Sterben.

TSCHAIKOWSKY, EIN RUSSISCHER ROMANTIKER

Tschaikowsky stirbt wie der Held eines Romans. Betrachtet man die romantischen Umstände seines Sterbens, die seltsame »Briefliebe« zu Frau von Meck, ja, die geheimnisvollen Wege seines Lebens überhaupt, so möchte man meinen, Tschaikowsky als Mensch hätte die musikalische Nachwelt noch lange bewegen und beschäftigen müssen.

Doch während etwa Ludwig van Beethovens Taubheit oder die Frauenaffären Franz Liszts und Richard Wagners bis heute allgemein im Gedächtnis haften geblieben sind, geriet der denkwürdige Lebensweg Tschaikowskys sehr bald in Vergessenheit. Tatsächlich ist Tschaikowskys Name bekannt allein durch die weite Verbreitung und die außerordentliche Beliebtheit seiner Werke.

Die entscheidende Ursache für die besondere Popularität von Tschaikowskys Musik liegt unstreitig darin, daß sie jedermann sofort Zugang gewährt. Bei anderen Komponisten, zum Beispiel bei Beethoven, steht die thematische Verarbeitung im Vordergrund, deren künstlerische Feinheiten sich erst allmählich erschließen.

Tschaikowsky ist verständlich vom ersten Augenblick an. Im Grunde geht es dem Komponisten immer um die Entfaltung einer einzigen Melodie. Eine einzige Melodie soll in all ihren Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Diesem Ziel werden alle anderen kompositorischen Mittel untergeordnet.
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Die Faszinationskraft von Tschaikowskys Melodien

Bei der Faszinationskraft der Melodien Tschaikowskys ist es nicht weiter überraschend, daß sich sogar die Schlager- und Filmindustrie ihrer bemächtigt hat. So mancher Filmproduzent hat sich die Erfindungen Tschaikowskys zunutze gemacht.

Auch das berühmte Eröffnungsthema des Klavierkonzertes Nr. 1 wurde eine Beute Hollywoods. Es wäre allerdings ungerecht, wollte man aus diesen Erscheinungen schließen, Peter Tschaikowsky wäre als Musiker nur dem bloßen Effekt nachgejagt.

Der russische Komponist hat die spektakulären Klangwirkungen, die ihn in der ganzen Welt berühmt gemacht haben, kaum gesucht. Er wollte nicht um jeden Preis gefallen. Er wollte vielmehr sein eigenes Fühlen bedingungslos und aufrichtig ausdrücken:

»Letzten Winter führte ich einige interessante Gespräche mit Tolstoi, welche mir über vieles die Augen geöffnet haben. Er hat mich überzeugt, daß derjenige Künstler, der nicht aus innerstem Antrieb schafft, sondern berechnend nach Effekt schielt in der Absicht, dem Publikum zu gefallen, kein wahrer Künstler ist. Seine Schöpfungen sind vergänglich, die Erfolge nur vorübergehend. Von dieser Wahrheit bin ich völlig durchdrungen.«

Tschaikowsky war nicht so unkompliziert wie die Unmittelbarkeit seiner Kompositionen glauben macht. Hinter der vordergründigen Problemlosigkeit seiner Musiksprache verbirgt sich ein empfindsamer Künstler und eine Kunst voller tragischer Gegensätze.
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Der Mensch Tschaikowsky war seelisch zerrissen.

Er sehnte sich nach Freunden, war aber unfähig, Fremden mutig und aufgeschlossen zu begegnen. Er brauchte Abgeschiedenheit und Frieden und hastete doch unruhig durch die Welt. Er fühlte sich in der großbürgerlichen Atmosphäre seiner Herkunft durchaus wohl und zu Hause, fand sich aber durch seine anormalen erotischen Neigungen von seiner gesellschaftlichen Umgebung ausgeschlossen. (Anmerkung : Homosexualität war geächtet und verborgen, ein Nogo in der gesamten europäischen Gesellschaft.)

Die tragischen Gegensätze des Menschen Tschaikowsky prägen auch den Künstler und sein Werk. Trotz aller scheinbaren Unkompliziertheit bleibt die Musik des russischen Meisters von seiner allgemeinen Lebensproblematik nicht unberührt.
Tschaikowsky floh aus der ihm unerträglichen Welt der Realität in die des schönen, bezaubernden Klangs. Er erstrebte in der Musik absolute, ungebrochene Schönheit. Die klassische Ausgewogenheit und heitere Gelassenheit Mozarts waren ihm ein Leben lang Vorbild und Ideal.

Sein nicht mehr heiles, gebrochenes Verhältnis zur Welt machte es ihm jedoch unmöglich, eine Mozart vergleichbare Schönheit zu erreichen. Nur in ganz seltenen Augenblicken vorübergehender Unbeschwertheit - wie etwa in den Monaten der Entstehung des Violinkonzertes - vermochte er sich ihr zu nähern. Im allgemeinen jedoch blieb die von ihm gesuchte schöne Musiksprache gebunden an das Lebensleid, das sie ausdrückt.

Tschaikowskys Schönheit ist eine kränkelnde Schönheit, eine Schönheit des Untergangs, eine Schönheit des sterbenden Schwans. Seine Werke enthüllen trotz ihrer Einfachheit den Zwiespalt eines tragisch entzweiten Menschen.

Denn gerade in dem Gegensatz zwischen der Unkompliziertheit und unmittelbaren Eingängigkeit der musikalischen Sprache und der tiefen Problematik ihrer Inhalte wird Tschaikowskys Lebenskonflikt spürbar.
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Die Kunst war immer Trost und Leiden zugleich

Für Tschaikowsky war die Kunst immer Trost und Leiden zugleich. »Denn er litt immer« - formulierte Klaus Mann in seinem Roman Symphonie Pathetique - »aus dem Leiden flüchtete er in die Arbeit, aber die Arbeit war ja ihrerseits Leiden, freilich gleichzeitig Trost.«

Tschaikowsky war Romantiker. Er war aber auch Russe. Indem er die Formen der Klassik zum zweitrangigen Gefäß für schier unerschöpfliche, unendliche Melodien machte, wurde er zu einem letzten und späten Vertreter der internationalen Bewegung der Romantik. Indem er Temperament und Ausdrucksweise seines russischen Volkes, dem er sich ganz zugehörig fühlte, in diese Melodien hineintrug, wurde er zu einem russischen Romantiker.

Diese beiden Aspekte von Tschaikowskys Musik spiegeln sich in ihrer Aufführungsgeschichte deutlich wider. Die ersten großen Tschaikowsky-Dirigenten Hans Richter (1843-1916), Arthur Nikisch (1855-1923) und Gustav Mahler (1860-1911) hatten zwar alle eine besondere Neigung für Rußland und zur russischen Kunst, betonten aber dennoch vor allem Tschaikowskys Bindung an die westeuropäische Tradition.

Die großen russischen Solisten und Dirigenten unserer Gegenwart, wie etwa der Pianist Svatoslav Richter (vgl. Bastei - Die großen Musiker 1), der Violinvirtuose David Oistrach (vgl. BDGM 5) oder der Leiter der Leningrader Philharmoniker Jewgenij Mrawinskij (vgl. BDGM 1), haben dagegen das russische Element in Tschaikowskys Werken wiederentdeckt und gerade dadurch bewiesen, daß die Musik des Komponisten erst in der Entfaltung sowohl ihrer romantischen als auch ihrer russischen Elemente ihre volle und bleibende Wirksamkeit zu erreidien vermag.
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