stereoplay Kompendium 1988 - "Grundlagen der HiFi-Technik"
Es müsste aber "Grundlagen der Akustik" heißen.
von Gert Redlich im Januar 2014 - Unter der Chefredaktion von Karl Breh wurden ab 1984 bis etwa 1988 in jede Ausgabe der stereoplay so ziemlich in der Mitte blaue Seiten mit Grundlagen-Wissen eingeklebt. Diese Seiten wurde später nach Abschluß der ganzen Artikel in einem Kompendium zusammengefaßt. Nach meiner Meinung sind diese Artikel hier nicht Hifi spezifisch sondern allgemeine akustische Grundlagen. Einige Artikel verlangen volle Aufmerksamkeit und gezieltes "Verstehen Wollen" für diese hochkomplexe Materie. Die einzelnen Verfasser haben sich dennoch bemüht, immer wieder mit plausiblen Beispielen nachzuhelfen. Der Inhalt des Kompendiums steht hier.
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Grundlagen der HiFi-Technik XI (1)
Über das Hören IV
Die Reizaufnahme der Haarzellen, der Transduktionsprozeß, geschieht durch die Abscherung der Cilien infolge der Relativbewegung zwischen der Basilarmembran und der Tectorialmembran.
Im Ohr gibt es messbare Spannungen
Interessant ist auch das folgende elektrische Phänomen: Die Messung mittels Mikroelektrode der Potentiale im Innenohr führt zu der Feststellung, daß die "Scala media" gegenüber der "Scala vestibuli" stark positiv (etwa 80 Millivolt) aufgeladen ist. Die "Stria vascularis" und das "Cortische Organ" zeigen demgegenüber negative Aufladung. Diese Potentialverteilung ergibt sich am unbeschallten Ohr (vergleiche die Bilder in der letzten Folge).
Das Mikrophonpotential
Am beschallten Ohr lassen sich weitere Potentiale nachweisen: das Mikrophonpotential und das Nervenaktionspotential. Das erstgenannte trägt seinen Namen deshalb, weil es sich, zum Beispiel am runden Fenster gemessen, verhält wie die Ausgangsspannung eines Mikrophons: Es gibt den genauen Schalldruckverlauf wieder.
Dieses Mikrophonpotential folgt dem Reiz ohne Verzögerung, besitzt keine Ansprechzeit (Refraktärzeit), keine meßbare Schwelle und ist nicht ermüdbar. Wahrscheinlich stellt das Mikrophonpotential die außerhalb der Zellen ableitbare Summe der Recep-torpotentiale aller erregten Haarzellen dar.
Das Receptorpotential und weitere
Da die Bestandspotentiale ein großes Potentialgefälle zwischen Endolymphraum und dem Inneren der Receptorzellen schaffen (mindestens 150 Millivolt), führen die durch die Abscherung der Cilien verursachten Widerstandsänderungen an der Membran zu einem Ein- und Ausstrom von Ionen und somit zu einem Receptorpotential. Dies ist der Inhalt der Batterie-Hypothese. Das Receptorpotential der einzelnen Haarzelle führt zu einer Ausschüttung von Transmitter am basalen Pol der Zelle. Dieser bewirkt nun seinerseits die Erregung der zum Zentralnervensystem führenden Nervenfaser.
Hörnerven-Fasern und die charakteristische Frequenz
Jede Nervenfaser kommt von einer einzigen inneren Haarzelle. Da bestimmten Orten der Schnecke bestimmte Frequenzen zugeordnet sind, wird jede Nervenfaser durch eine ganz bestimmte Frequenz optimal angeregt: die charakteristische Frequenz.
Um eine Nervenfaser mit einer nichtcharakteristischen Frequenz zu aktivieren, sind entsprechend höhere Schalldrücke nötig. Dann werden nicht nur die betroffenen Fasern stärker erregt, sondern es werden auch zusätzlich benachbarte Fasern aktiviert. Auf der Ebene der primären Nervenfasern wird der Schallreiz in seine Frequenzkomponenten zerlegt.
Die einzelnen Komponenten erregen die ihnen zugeordneten Fasern. Auf den nachfolgenden höheren Stationen der Hörbahn verhalten sich die Neuronen anders.
Die Hörbahn führt zum Gehirn
Bild 8 zeigt das vereinfachte Schema einer zur Hörrinde im Gehirn führenden Hörbahn. Der Übersichtlichkeit wegen sind nur die Bahnen des linken Ohrs eingezeichnet. Eine Pfeilspitze symbolisiert jeweils die Umschaltung auf ein weiteres Neuron.
Die primären Fasern ziehen zunächst in den Nucleus cochlearis, der in einen ventralen und einen dorsalen Kern unterteilt ist. Vom ventralen Teil führt eine ventrale Bahn zum Olivenkomplex der gleichen und der gegenüberliegenden Seite. Die Nervenzellen des Olivenkomplexes erhalten demnach Eingänge von beiden Ohren.
Jetzt kommt die Stereo-Funktion
Auf dieser Ebene ergibt sich erstmals die Möglichkeit, die akustischen Signale, die auf beide Ohren einwirken, zu vergleichen. Dies geschieht insbesondere im Nucleus accessorius, der für die Fähigkeit des räumlichen Hörens verantwortlich ist.
Vom Nucleus cochlearis dorsalis geht eine dorsale Bahn aus. Die Fasern kreuzen auf die andere Seite und werden im lateralen Schleifenkern der Gegenseite umgeschaltet. Am Ende besteht die Bahn aus fünf bis sechs Neuronen, doch gibt es noch weitere, im Schema nicht eingezeichnete Umschaltungen.
Im Unterschied zum Nervus acusticus, der auf einfache Reize wie reine Töne anspricht, reagieren die Neuronen der höheren Ebenen der Hörbahn anders. Hier können aufgrund starker wechselseitiger Verschaltungen Schallreize auch zur Hemmung der Neuronen führen.
Neuronen noch höherer Ebenen der Hörbahn reagieren nur noch auf komplexe Schallmuster, wie amplituden- oder frequenzmodulierte Töne oder Klänge.
Im Gehirn wird ausgewertet
Andere Neuronen sprechen auf den Beginn eines Schallreizes, wieder andere auf dessen Ende an, möglicherweise zum Zweck der Zeiterfassung. Als Faustregel gilt: Auf je höherer Ebene sich ein Neuron befindet, um so kompliziertere Schallmuster sind nötig, um es zu erregen. Die Auswertung aller durch die Neuronenvernetzung gelieferten Informationen besorgt das Gehirn.
Warum Frauenchöre manchmal so schrill klingen
Das Ohr ist kein linearer Wandler, daher erzeugt es wie ein elektroakustischer Wandler Kombinationstöne. Einem Ton von 3.000 Hertz und einem zweiten von 4.000 Hertz, beide mit hoher Lautstärke, fügt das Ohr einen dritten hinzu, den Differenzton erster Ordnung von 1000 Hertz.
Es treten unter Umständen sogar kubische Differenztöne auf: 2f2— fl, wobei f2 und f1 die Frequenzen der Primärtöne bedeuten. Frauenchöre enthalten nicht selten hochfrequente Komponenten großer Lautstärke, was leicht zur Erzeugung unerwünschter Differenztöne im Ohr führt, die der HiFi-Anlage beim besten Willen nicht anzulasten sind.
Ohren sind sehr unterscheidlich und schon gar nicht perfekt
Das Ohr hat aber noch eine andere, ebenso merkwürdige wie interessante und besonders für Dirigenten ärgerliche Eigenschaft: Lang andauernde Töne hoher Lautstärke können gleichzeitig wahrgenommene leisere dahingehend beeinflussen, daß das Ohr sie als verstimmt empfindet, und das nicht zu knapp.
So hat Fritz Winckel gezeigt, daß die lokale Belastung der Basilarmembran durch einen Dauerton von 800 Hertz zu einer Verstimmung des eine "Quint" höheren Tons um sieben Prozent nach unten führt — das ist mehr als das Intervall einer kleinen Sekunde.
Das menschliche Ohr ist zwar ein hochempfindlicher, fein auflösender Schallempfänger mit gewaltigem Dynamikbereich. Perfekt im strengen Sinne von High-Fidelity ist es nicht.
Karl Breh