Die Musik im Rundfunk ist eine der edlen Hifi-Quellen
Anfänglich (so ab 1952) waren die neuen 33er Hifi- (Mono-) Langspiel- Schallplatten noch lange nicht für Jeden erschwinglich und man hatte nur (oder schon) qualitativ gute Radiomusik auf UKW als Quelle. Und das war für viele Menschen schon absolut feinste Sahne gegenüber Mittelwelle vor und nach dem Krieg. Und von Stereo oder Hifi wollen wir noch gar nicht reden.
Ein kleine Episode:
Der Vater des Autors Redlich kaufte ("sich" zu Weihnachten) 1956 für mehr als zwei Monats- gehälter (von seinen Provisionen) ein Grundig 3D 3055 Konzertradio mit 5 (fünf !!!) Lautsprechern und sogar mit "3D Klang". Und wir Kinder (mein Bruder und ich) durften (nein mussten) die ganzen Weihnachtsfeiertage mit den Eltern vor dem Radio sitzen und stundenlang den ganzen "Mist" (wir hatten mit unseren 6 Jahren überhaupt keinen Draht zu klassischer Musik) anhören. Mein Musikempfinden für Brahms und Beethoven war seit jener Zeit leicht gestört.
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Über die "ernste" Musik im Rundfunk.
(Von hier an eine Betrachtung aus dem Jahr 1956)
Am 29. Oktober 1923 eröffnete die Funkstunde AG. Berlin (Anmerkung: Das war eine rein private Firma) den deutschen Unterhaltungsrundfunk. Das erste, von 20.00-21.00 Uhr ausgestrahlte Programm war ein Konzert. Musik erklang als Auftakt, und Musik ist das Rückgrat aller Sendepläne geworden. Der Beginn im Berliner Vox-Haus war überaus bescheiden - in akustischer, technischer und künstlerischer Hinsicht.
Keiner der verdienstvollen Rundfunkpioniere hätte damals gedacht, daß fünfunddreißig Jahre später (diese Aussage hier ist von 1956 !!) die Möglichkeit gegeben sei, ein hochstehendes und mannigfaltiges Musikprogramm über viele Wellen zu empfangen. So unvollkommen das Eröffnungskonzert auch war, so nachhaltig hat sich seine Vortragsfolge auf die zukünftige Programmgestaltung ausgewirkt. Noch heute haben zahlreiche Musiksendungen eine auffallende Ähnlichkeit mit der Struktur jenes ersten Programmversuchs.
Wer alte Radio-Zeitschriften studiert, wird überrascht sein, welche überragende Bedeutung gerade der Musik im Rundfunk von Anfang an beigemessen wurde. Inzwischen hat die Erfahrung gelehrt, daß selbst ein Übermaß an Musik keinen Sendeplan belasten kann. Es kommt einzig und allein darauf an, die Programme im Tagesablauf sinnvoll zu disponieren und sinnvoll abzuhören.
Nicht die Rundfunkstationen, die sich ihrer Aufgabe als Kulturinstrument und als musikalischer Erziehungsfaktor durchaus bewußt sind, haben ständig geöffnete "Berieselungsanlagen", sondern jene Hörer, die gedankenlos den ganzen Tag und die halbe Nacht rauschende Ströme von Musik in ihre Zimmer fließen lassen. Diese unkontrollierbare und anonyme Masse kann mit einer Sendung umgehen, wie sie will, und daher auch alle wohldurchdachten Programmpläne zu jedem Zeitpunkt durchkreuzen.
Ein "profiliertes" Musikprogramm ?
Der Weg zu einem zielstrebigen, profilierten Musikprogramm war lang und mühevoll. In den ersten Jahren gab es, streng genommen, keinen ausgefeilten Programmstil. Niemand nahm daran Anstoß, daß sich an einem einzigen Abend drei, ja vier Streichquartette türmten. Niemand wunderte sich, wenn umfangreiche Opern am Nachmittag begannen und den Sendeplan bis zur nachtschlafenden Zeit blockierten. Gedichte von Goethe anderthalb Stunden lang rezitieren und singen zu lassen, war weder exzeptionell noch extravagant, selbst am Samstagabend nicht.
Aus solchen Experimenten hat sich allmählich ein Musikprogramm eigener Prägung entwickelt. Im Gegensatz zu der im Konzertsaal gespielten Musik können gesendete Werke nur akustisch wirken. In der objektivierenden Übertragungskette vom Studio bis zum Lautsprecher entfällt alles Optische, alles Atmosphärische, also alles Suggestive, welches bekanntlich die Eindrücke der Öffentlichkeit wesentlich mitbestimmt.
Wie häufig ist es schon vorgekommen, daß die Begeisterung über ein Konzert nach Abhören der Aufnahme gedämpft wurde. So hat sich schließlich die Auffassung durchgesetzt, daß die Musiksendung anderen aurikularen und psychologischen Gesetzen folgt als die öffentliche Veranstaltung. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, die traditionellen Konzertformen des städtischen Musiklebens, die zuerst oft kopiert worden waren, durch neue Programmtypen abzulösen.
Noch heute glauben viele Musikfreunde, der allgemeine Musikbetrieb könne auch auf den Rundfunk angewendet werden. Immer wieder begehen diese Hörer den Fehler, das Musikprogramm einer Radiostation vom Standpunkt des philharmonischen Konzerts aus zu bewerten. Sie leben in der Vorstellung, eine vollwertige Sendung müsse die Dauer eines ihr entsprechenden Konzertabends haben.
Für solche Hörer soll ein repräsentatives Orchesterkonzert nach dem Schema: Einleitung - Instrumentalkonzert - Sinfonie verlaufen. Jede Sendung, die sich nicht mit diesen Gedanken berührt, zählt nicht mit, mag sie noch so gehaltvoll sein. Wie schnell ist dann das schiefe Urteil gefällt, der Rundfunk vernachlässige die ernste Musik.
Programmgestalter haben durchaus wirtschaftliche Zwänge
Aus vielen Gründen, vor allem aber aus wirtschaftlichen Erwägungen, ist der Programmgestalter im öffentlichen Musikleben gezwungen, nach einer bestimmten Schablone zu arbeiten. So ist beispielsweise die Zahl der Mitwirkenden auf dem Podium von kalkulatorischen Gesichtspunkten abhängig. Es dürfte so gut wie ausgeschlossen sein, im Konzertsaal Werke verschiedenartiger Besetzung aneinanderzureihen, weil die Kosten einer solchen Veranstaltung den Etat eines gewöhnlichen Konzertabends weit übersteigen würden.
Es ist einfach unrentabel, mitten in einem Sinfoniekonzert ein Streichquartett auftreten und die Orchestermitglieder eine halbe Stunde lang Spazierengehen zu lassen. Der Rundfunk dagegen braucht sich keine solchen Beschränkungen aufzuerlegen, er ist nicht gezwungen, die scharfe Trennung der musikalischen Gattungen zu vertreten. Es hat sich hier durchaus bewährt, Orgelmusik, A-cappella-Chor-und Orchesterstücke zu kombinieren, ein Streichtrio von einer Klaviersonate und einem Hornkonzert umrahmen zu lassen, ja, auf ein Cembalokonzert unmittelbar ein Klavierkonzert zu senden. In Sinfoniekonzerten kann man das Rundfunkorchester unter verschiedenen Dirigenten spielen oder jede einzelne Programmnummer von einem anderen Orchester vortragen lassen.
Es ist im Radio auch möglich, ein und dasselbe Werk mehrfach hintereinander zu hören, von zwei, drei oder vier Künstlern zum Vergleich interpretiert. Ferner kann die Programmfolge selbst aufgelockert werden. Die Erfahrung hat gezeigt, daß Instrumentalkonzerte sehr wohl zu Beginn oder am Schluß eines Programms stehen können, daß Sinfonien als Auftakt ebenso eindrucksvoll sind wie erprobte Einleitungsstücke am Ende einer Sendung. Der schöpferischen Phantasie der Programmredakteure sind theoretisch keine Grenzen gesetzt. Je gegensätzlicher die Besetzung, je farbiger das Klangbild, je mannigfaltiger der Charakter der Werke, desto ansprechender die Sendung.
Mit den Problemen der Programmgestaltung werden auch ästhetische Fragen angeschnitten. In diesen komplexen Bereich gehören vor allem die gegensätzlichen Meinungen über rein historische Stilprogramme im Rundfunk. Es gibt zahlreiche Stationen, die in ihren Sendungen die Epochen der Musikgeschichte ebenso fein säuberlich abgeteilt lassen wie in den Kapiteln der Lehrbücher. Besonders deutlich trennen sie die Neue Musik von der klassischen und der romantischen Periode ab und stellen die mannigfachen modernen Strömungen nur in Abend- oder Nacht-Studios zur Diskussion.
Aber auch anspruchsvolle Musiksendungen ohne experimentelle Merkmale werden häufig in die späten Abendstunden oder in das "Dritte Programm" verlegt. In der Deutschen Bundesrepublik (diese Aussage ist von 1956 !!) wurde ein solches Spezialprogramm zum ersten Mal vom 24.12.1954 bis 2.1.1955 täglich zwischen 18.00 und 1.00 Uhr über die UKW-Sender Hamburg, Hannover, Oldenburg, Göttingen, Bungsberg und Kiel ausgestrahlt. Der Norddeutsche Rundfunk hat diese Sendungen Jahr für Jahr wiederholt, der Bayerische Rundfunk im Herbst 1957 eingeführt.
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Klassik ohne Ende im Sendeplan (alles aus 1956)
Wie weit die Ansichten der Programmredakteure gerade in diesen Punkten auseinandergehen, erhellen die Sendepläne andersdenkender Rundfunkanstalten. Hier wird ein "Drittes Programm" für überflüssig gehalten und ein echtes Kontrastprogramm erstrebt, in das die Spezialitäten aus den exklusiven Sendezeiten eingebaut sind. Zwei Wellenbereiche bieten die Möglichkeit, das ernste Musikprogramm sinnvoll über den ganzen Tag zu verteilen. Abgesehen von ausgesprochenen Experimenten sind keine Werke an bestimmte Stunden gebunden. In diesem Sendeplan führt natürlich auch die moderne Musik kein Eigenleben. Sie braucht ebensowenig abgezäunt zu werden wie die Ars antiqua, der Barock oder die Romantik.
Automatisch verwischen sich die Grenzen der Stilperioden, und die organischen Zusammenhänge der Musikgeschichte können sich in Mischprogrammen den Hörern erschließen. So steht auf ein und derselben Vortragsfolge Bach neben Hindemith, Brahms neben Bartok, Haydn neben Strawinskij, die polyphonen Konstruktionen des Mittelalters neben den kontrapunktischen Künsten der Gegenwart, um einige Beispiele anzuführen. Es ist leicht zu erkennen, daß sich aus solchen Musiksendungen ein eigener Programmstil entwickeln läßt, der von den Konventionen des öffentlichen Konzertwesens weit entfernt ist. Andererseits hat der allgemeine Musikbetrieb den Rundfunk aber auch zu neuen Sendeformen angeregt.
Das im Konzertsaal verkaufte Programmheft mit den Erläuterungen der gespielten Stücke wurde in die sog. "Erweiterte Ansage" umgesetzt, die den sachlichen Programmnachweis mit Bemerkungen über den Komponisten und sein Werk ausschmückt. Um das Verständnis schwieriger Sendungen zu erleichtern, entstanden dann größere Einführungen in das Leben und Schaffen der betreffenden Musiker. Wer die ersten Interpretationen einzelner Werke datieren will, muß weit in der Geschichte des deutschen Rundfunks zurückgehen.
Bereits am 14. März 1926 analysierte der Komponist Kurt Weill in der Berliner Funkstunde das 1. Streichquartett von Bela Bartok, das anschließend vom Havemann-Quartett gespielt wurde. Alle diese mehr als drei Jahrzehnte ausgeführten Versuche (diese Aussage ist von 1956 !!), den Kontakt zwischen Hörer und Musik zu vertiefen, krönt die "Musikliterarische Sendung", die sich in letzter Zeit zu einem wichtigen Programmbeitrag entwickelt hat. Sie dauert im allgemeinen 60 Minuten, gelegentlich auch länger, und besteht aus Musik und verbindendem Text. Beide Komponenten können lose zusammenhängen oder in einer geschlossenen Sendung nach Art einer Hörfolge miteinander verschmelzen.
Komponistenporträts, Musikstätten, Stilrichtungen, Formprobleme, Instrumentenkunde, Folklore sind einige Stichworte aus der Fülle der anfallenden Themen. Ihre Behandlung reicht vom feuilletonistisch abgefaßten Manuskript bis zur wissenschaftlich gut fundierten Arbeit. Zwei Gattungen, die der Rundfunk aus dem städtischen Musikleben übernahm, hat er sogar konserviert: das große Sinfoniekonzert und die Oper.
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Erste Übertragung eines Orchesters 1924 im Radio
Im Herbst 1924 fand die erste Übertragung aus der Berliner Philharmonie statt, und noch heute kündigen die Radiostationen Live-Sendungen und Aufnahmen öffentlicher Orchesterkonzerte an. Allen Einwänden zum Trotz haben sich diese strukturell funkfremden Veranstaltungen und Programme behauptet, ja sie sind sogar in den Sendeplänen verankert. Denn die meisten Rundfunkanstalten sind dazu übergegangen, eigene Sinfoniekonzerte vor geladenen Gästen oder gegen Eintrittsgeld zu geben. Zu diesem Zweck werden die Studios für Besucher geöffnet oder die Rundfunkorchester in Konzertsäle geschickt. In den letzten Jahren ist auch ihr Interesse an in- und ausländischen Gastspielreisen gestiegen. Von allen Sachgebieten ist die Oper im Funk das älteste und zugleich problematischste.
Lange vor Beginn eines regelmäßigen deutschen Rundfunkprogramms, genau am 8. Juni 1921, wurde die erste Oper aus einem Theater übertragen, und zwar Puccinis "Madame Butterfly" aus der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Daß ausgerechnet die Oper - ein Bühnenwerk, das anderen dramaturgischen Gesetzen folgt als eine Radiosendung - in das ihr wesensfremde Funkhaus eindringen und dort bis heute eine starke Position behaupten konnte, gehört zu den Kuriosa in der Geschichte des Rundfunks. Diese Paradoxie erklärt auch die vielen Experimente, die der Rundfunk mit der Oper angestellt hat. "Die Hochzeit des Figaro" von Wolfgang Amadeus Mozart war die erste Opernproduktion des deutschen Rundfunks.
Mit dieser Aufführung im Herbst 1924 begann die Sendespiel-Bühne der Berliner Funkstunde, Abteilung Oper, um die sich Kammersänger Cornelis Bronsgeest große Verdienste erworben hat. In seinen Sendungen blieben die Werke im allgemeinen unangetastet, abgesehen von geringfügigen Strichen und unerläßlichen Ergänzungen.
Zum besseren Verständnis der Handlung wurden die einzelnen Akte oder Bilder mit genauen Inhaltsangaben eingeleitet, außerdem die Entstehung und Bedeutung der Opern am Anfang des Programms erklärt.
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Viele Werke mußten drastisch gekürzt werden
Von der 16. Veranstaltung an gab der Berliner Verlag Dr. Wedekind & Co. Textbücher heraus, die den authentischen Wortlaut dieser Sendespiele von der Kopfansage bis zum Schlußsatz veröffentlichten. Die vielerörterten Unterschiede zwischen Theater und Rundfunk, denen auch wissenschaftliche Untersuchungen gewidmet wurden, haben die Übertragungen aus Opernhäusern reduziert, aber nicht eliminiert. Dagegen wurde alles versucht, den Rahmen der Sendespiele zu sprengen und die Studio-Opern so funkgerecht wie nur irgend möglich zu produzieren.
Der Plan ging davon aus, daß die Aufnahmefähigkeit der Hörer begrenzt sei und die für bestimmte Programmsparten erprobte Sendezeit nicht wesentlich überzogen werden dürfe.
Unter diesen Voraussetzungen blieb zunächst gar nichts anderes übrig, als die stundenlangen Werke radikal zu kürzen. Aus den einzelnen Akten wurden die wichtigsten Szenen ausgeschnitten und durch Erläuterungen miteinander verknüpft. Eine andere Möglichkeit, die Handlung zu verdeutlichen, gab die "dramaturgische Brücke", deren Pfeiler die ausgewählten Musiknummern waren. Über sie wölbte sich der verbindende Text, der aus kurzen Hinweisen auf die Situation und aus originalen Dialogstellen bestand. Mit diesen Hilfsmitteln konnten die aus dem Zusammenhang gerissenen Musikstücke zu einer neuen Einheit verschmolzen werden.
Trotz dramaturgischer Brücken hatten die Querschnitte noch viel zuviel Ähnlichkeit mit den gehobenen Opernkonzerten, in denen einzelne Titel durch erweiterte Ansagen verbunden sind. Im Lauf der Zeit verstärkte sich daher der Eindruck, daß man selbst Ausschnitte aus einem für das Theater konzipierten Werk nicht ohne weiteres in das Studio versetzen kann. So erhärtete sich die Auffassung, die für eine Sendung bestimmte Oper müsse als ein in sich geschlossenes Kunstwerk respektiert, aber den Normen des Funks unterworfen werden. Bei diesem Prozeß war alles Visuelle soweit wie möglich ins Akustische zu übertragen.
Ähnlich dem Hörspiel arbeitete die Studio-Oper jetzt mit Raumvorstellungen und Geräuschkulissen. Sprecher für Szenenangaben, Inhaltserklärungen und andere Bemerkungen wurden überflüssig. Die Aufgabe, dem Hörer die szenischen Vorgänge zu veranschaulichen, übernahmen die Figuren der Oper selbst. Für diesen Zweck mußten oft Dialoge geändert, Szenen erfunden, ja sogar Personen eingefügt werden, die nicht im originalen Rollenverzeichnis standen.
Als Beispiel für die angedeuteten Prozeduren sei der Anfang aus dem Regiebuch einer Funkbearbeitung von Webers "Abu Hassan" angeführt. Die Oper wird mit einer kurzen Ouvertüre eingeleitet, auf die unmittelbar ein Duett für Abu Hassan und seine Gemahlin Fatime folgt. In dieser ersten Gesangnummer ist die Rede davon, daß in Hassans Geldbeutel wieder einmal Ebbe ist, er aber ganz gern das Leben eines Schlemmers führen möchte. Dem Hörer, der am Lautsprecher sitzt und keine Bühne sieht, muß zunächst der optische Eindruck ersetzt werden. Er muß also irgendwie erfahren, daß die Handlung im Orient spielt und das Ehepaar Hassan in mißlichen Verhältnissen lebt.
Die Versuche, dem Rundfunkhörer das Zauberreich des musikalischen Theaters zu erschließen, haben das Interesse an neuen, spezifisch "funkischen" Gattungen erweckt. Bisher sind mehr als 50 Funkopern bekannt geworden. In Deutschland wurde die erste am 24. Dezember 1929 von Köln gesendet: "Christkinds Erdenreise" von Gustav Kneip.
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Natürlich wurde auch anderweitig musikalisch experimentiert.
Durch Kompositionsaufträge und Rundfunkpreise, zum Beispiel "Prix ltalia" seit 1948, erhielten alle radiophonischen Experimente einen starken Auftrieb. Aber auch viele Werke, die im öffentlichen Musikleben Beachtung und Anerkennung gefunden haben, verdanken ihre Entstehung dem Rundfunk. Schon 1927 erteilte die Südwestdeutsche Rundfunk-AG den ersten Auftrag, und zwar Paul Hindemith, der sein Konzert für Orgel und Kammerorchester zur Einweihung der neuen Orgel im Frankfurter Sendesaal geschrieben hat. Seitdem verdient der Rundfunk als ein Mäzen großen Stils gerühmt zu werden.
Der Rundfunk hat aber nicht nur die Formen der Musik erweitert, sondern auch Klangvorstellung und Klangrealisation modifiziert. Die Experimente, Musik mit den Mitteln der Rundfunktechnik künstlich zu produzieren, begannen mit der Konstruktion elektroakustischer Instrumente. Das erste Konzert eines ausschließlich aus solchen Musikinstrumenten bestehenden Orchesters wurde von der Berliner Funk stunde am 19. Oktober 1932 veranstaltet. Auf dem Podium war folgendes Instrumentarium zu sehen: Neo-Bechstein-Flügel, Trautonium, Hellertion, elektrische Geige und elektrisches Cello sowie zwei Theremin-Instrumente.
Hinter jedem Gerät stand der zugehörige Lautsprecher für die Abstrahlung der Klänge. Ihre Existenz verdankt die elektronische Musik dem österreichischen Physiker Robert von Lieben, dem Erfinder der Elektronenröhre (1906).
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Das Magnetophonband, eine geniale (deutsche) Erfindung
Früher diente die magnetische Schallaufzeichnung nicht der Kompositionstechnik, sondern ausschließlich der musikalischen Dokumentation. Welche überragende Bedeutung ihr im modernen Sendebetrieb zukommt, zeigt die Entwicklung des Rundfunkprogramms zu seiner heutigen Varietät und Qualität.
Erst mit Hilfe des Magnetophonbandes ist es gelungen, die größtmögliche Perfektion der Wiedergabe zu erreichen und den Höhepunkt einer künstlerischen Leistung festzuhalten. Aber auch rein organisatorische Probleme, die einst die Arbeit in den Funkhäusern erschwerten, sind auf ein Minimum zusammengeschrumpft. So sind Produktion und Reproduktion unabhängig voneinander geworden.
Kein Engagement braucht in der vorgesehenen Sendezeit erfüllt zu werden. Selbst die gefürchteten Absagen, die beispielsweise Konzertagenten und Opernintendanten unter Umständen viel Kopfzerbrechen machen, bereiten den Programmredakteuren des Rundfunks keine Sorgen. Das Schallarchiv hat genügend "Musikkonserven" für alle Eventualitäten.
Vor der Erfindung des Magnetton Verfahrens hat die Schallplatte eine wichtige Rolle im Sendebetrieb gespielt. Industrie-Aufnahmen sind von Anfang an verwendet worden. Mit der Ausbreitung des Rundfunks zog die Schallplatte auch die Aufmerksamkeit der Juristen auf sich. Ihnen wurde die Frage vorgelegt, ob es statthaft sei, die Fabrikate der Schallplattenfirmen unbeschränkt in die Programme der Radiostationen zu übernehmen.
Ein jahrelanger Rechtsstreit fing an, dessen entscheidende Phasen für die Programmgestaltung ausschlaggebend gewesen sind :
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- 1. 1.1930 Die deutschen Rundfunkgesellschaften beginnen, eigene Schallplatten zu schneiden.
- 13.11.1931 Eine Reichsgerichtsentscheidung verbietet dem deutschen Rundfunk, Schallplatten der meisten deutschen Firmen zu verwenden.
- 26. 3.1932 Der Prozeß endet mit einem Vergleich. Der deutsche Rundfunk darf monatlich 60 Stunden Schallplatten senden. Die Aufnahmen stellt die Industrie kostenlos zur Verfügung, doch müssen Fabrikmarke und Bestellnummer angesagt werden.
- 5. 4.1935 Beginn eines neuen Rechtsstreits zwischen der Industrie und dem Rundfunk.
- 5. 5.1935 Der deutsche Rundfunk stellt die Verwendung von Industrie-Schallplatten ein.
- 14.11.1936 Urteil im Schallplatten-Prozeß: Das Reichsgericht hebt das Urteil des Berliner Kammergerichts auf, das den Rundfunk berechtigte, Schallplatten ohne Zustimmung der Firmen zu senden. Dagegen wurde die Entscheidung gefällt, daß der deutsche Rundfunk für die von ihm gesendeten Industrie-Schallplatten lizenzpflichtig ist.
- 1. 1.1938 Beginn der Verwendung von Magnetophonbändern im deutschen Rundfunk.
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Trotz Einigung wurde die Schallplatte verdrängt (aus 1956)
Nach dem zweiten Weltkrieg haben die Rundfunkanstalten und die Schallplattenfirmen großen Wert darauf gelegt, korrekte Beziehungen zueinander zu unterhalten. Als Ergebnis der reibungslosen Zusammenarbeit konnten mehrere Vereinbarungen getroffen werden. Zur Zeit gilt der 1956 abgeschlossene Schallplatten-Sendevertrag, Die Sendebefugnis wird gegen ein jährlich festgesetztes Entgelt erteilt, das mit der Hörerzahl steigt oder sinkt.
Die Sendezeit für Schallplatten der beteiligten Firmen ist für die einzelnen Wellenbereiche wöchentlich begrenzt, doch darf jede im Archiv vorhandene Aufnahme unbeschränkt wiederholt werden. Der Rundfunk ist befugt, die Platten der Vertragsfirmen zu verwenden, von den Platten Umschnitte auf Band herzustellen oder Kopien der im Besitz der Industrie befindlichen Urbänder zu senden. Die Abgabe an Dritte ist ausgeschlossen. Fabrikmarke und Bestellnummer brauchen nicht angesagt zu werden.
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Ist nur klassische Musik "gute" Musik ? (im Jahr 1956)
Ein Blick in die Schallarchive der Funkhäuser mit ihren Beständen an Grammophonplatten und Tonbändern bestätigt die vorherrschende Ansicht, der Rundfunk habe heute die größte Musikproduktion und zugleich den größten Musikverschleiß. Immer wieder beweisen statistische Erhebungen, daß mehr als die Hälfte aller Sendezeiten der Musik vorbehalten ist. So gab kürzlich eine süddeutsche Station bekannt, in ihrem Programm verhielten sich Musik und Wort zueinander wie 59,04 zu 40,96 Prozent. Aber nur ein kleiner Prozentsatz der Musiksendungen ist der ernsten Musik eingeräumt.
Wenn sich ihre Position in vielen Sendeplänen auch verbessert hat, so darf man nicht darüber hinwegsehen, daß im allgemeinen die Unterhaltungsmusik immer noch zwei Drittel der Musikprogramme „bestreitet". Bei einer mittleren deutschen Rundfunkanstalt wurden beispielsweise im Geschäftsjahr 1953/54 284.304 Minuten gesendet, die in den Bereich der Unterhaltung gehören, im gleichen Zeitraum aber nur 148.416 Minuten ernste Musik. Zwei Jahre später war das Verhältnis 315.214 zu 181.732.
Die Kluft, die heutzutage Unterhaltungsmusik und ernste Musik trennt, stellt den Rundfunk vor schwierige Probleme. Welche Sendezeiten muß der Programmdirektor der Unterhaltungsmusik überlassen, welche Stunden kann er für die "künstlerisch wertvolle" Musik reservieren? Diese Fragen nach der Programmstruktur und Hörerschaft versuchen nicht nur die Rundfunkanstalten selbst zu klären, sondern auch die demoskopischen Institute und die rundfunkwissenschaftlichen Seminare an den Hochschulen.
Der erste internationale Kongreß, der sich mit den soziologischen Problemen der Musik im Rundfunk beschäftigt hat, fand vom 27. bis 30. Oktober 1954 in Paris statt. Die Mannigfaltigkeit der behandelten Themen gab den Teilnehmern Gelegenheit, soziologische, pädagogische, technische, ästhetische, theoretische und musikalische Fragen anzuschneiden. Zum Abschluß empfahl der Kongreß die Gründung einer internationalen Arbeitsgemeinschaft, die alle Forschungsmethoden erfassen und weiterbilden soll, um dadurch der Verbreitung der Musikkultur in die verschiedenen Gesellschaftsschichten durch das Massenmedium Rundfunk zu dienen.
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Über die Unterhaltungsmusik (aus 1956)
Aus der Chronik des Rundfunks geht hervor, daß die Begriffe "Rundfunk" und "Unterhaltungsrundfunk" anfangs identisch waren. Es zeigte sich aber bald, daß der Terminus "Unterhaltungsrundfunk" nicht zum Generalnenner für alle Emissionen taugte. Man ließ ihn stillschweigend fallen.
Der junge Rundfunk benötigte die Unterhaltungsmusik beinah weniger seinen Hörern zuliebe, die kaum Zeit hatten, sich mit Hilfe von Kopfhörern zu den unmöglichsten Tageszeiten Musik anzuhören, als für den Radiohandel, der jederzeit leichte Musik zur Verfügung haben mußte, da durch Sinfonien die Masse der Hörer nicht zu gewinnen gewesen wäre. Damals wurde der Grund gelegt zu der unseligen Gepflogenheit, zu allen Stunden des Tages, mit oder ohne zwingende Notwendigkeit, Musik in den Äther zu schleudern. Den Hauptanteil hatte die Unterhaltungsmusik zu tragen. An dieser Vergeudung von Musik, die längst als eine der sinnlosesten Erscheinungen des ganzen Radiowesens erkannt ist, wird nach wie vor hartnäckig festgehalten. (diese Aussage ist von 1956 !!)
Der Rundfunk konnte sich daher nicht mehr nur seiner eigenen Orchester sowie sonstiger Blas-, Schrammel- und Zigeunerkapellen bedienen, sondern mußte allen möglichen Laienvereinigungen, die bisher zu ihrer Feierabendfreude mit Zupf- und Balginstrumenten hantiert hatten, den Weg ans Mikrophon freigeben, denn in ihnen war der Wunsch erwacht, genannt und gehört zu werden.
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Da "schwappte" etwas über den großen Teich
Die Nachgiebigkeit gegenüber diesen Ansprüchen, eine als "Dienst am Kunden" aufgefaßte Konzession, bewirkte, daß sich eine Laienmusik minderen Grades in den Programmen festsetzen konnte. Sie trotzte jeglicher Erneuerung der Unterhaltungsmusik, während die Salonkapellen den Wandlungen des Geschmacks zufolge eingingen. Amerikanische Rhythmen hatten schon vor dem ersten Weltkrieg begonnen, die Tanzformen Europas zu modernisieren. In den Pionierjahren des Rundfunks machte sich der Amerikanismus durch einander rasch ablösende Tanzmoden erneut geltend und importierte hierfür auch ein bisher unbekanntes Instrumentarium.
Etwas ungleich Grelleres, Schärferes, Aufreizenderes, als unsere Musik je aufzuweisen hatte, war nun in sie hineingetragen. Man hatte den Reiz harter Dissonanzen, des drängenden Hot, der überraschenden Breaks entdeckt, man freute sich der absichtlich unreinen, glissandierend angeschliffenen Töne der Hawaiigitarren, Saxophone, Posaunen und Lotusflöten, der mit Wauwau-Dämpfern gespielten Trompeten, des Weinens der Wurlitzorgel. Namentlich die Jugend erlag der Faszination durch eine neue Musizierart, dem Jazz. Damit vollzog sich eine Änderung des Klanges der gesamten Unterhaltungsmusik, die den Rundfunk vor neue Aufgaben stellte.
Bisher war die Unterhaltungsmusik zumeist durch Ensembles, die sich der Salonorchester-Ausgaben bedienten, und durch mittelgroße Orchester zu Gehör gekommen, die in herkömmlicher Besetzung das bewältigten, was im 19. Jh. aus der Orchesterliteratur für Unterhaltungszwecke aussortiert worden war, Tänze, Ouvertüren, Intermezzi, Suiten, Romanzen, Rhapsodien, Charakterstücke, Liedbearbeitungen und Märsche, als Repertoire der Kaffeehaus-, Kur- und Militärkapellen durch beharrliche Wiederholung in allen Promenaden- und Gartenkonzerten zu festem Besitz des Volkes geworden.
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Der Rundfunk mußte sich wandeln
Eine Erweiterung dieses veraltenden Bestandes war nicht zu umgehen, da die ständig steigende Zahl der Sendestunden einen Verschleiß dieser Musiken zur Folge hatte. Der fehlende Bedarf konnte zunächst mit jenen Stücken ersetzt werden, die als absinkendes Kulturgut Jahr um Jahr aus den Sinfoniekonzerten ausgeschieden wurden. Als "gehobene Unterhaltungsmusik waren solche Kompositionen ein willkommener Zuwachs für die Konzertprogramme des Rundfunks.
Aber damit hatte es nicht sein Bewenden. Der Rundfunk ging nun selber daran, durch Kompositionsaufträge der Stagnation der Unterhaltungsmusik abzuhelfen. Schon die ersten Aufträge zeitigten gute Ergebnisse. Als deren bestes ist die tänzerische Suite" von Eduard Künneke anzusehen. In ihr gab sich der Einfluß Amerikas durch den Einbau einer Band in ein großes Orchester zu erkennen.
Die jüngere Komponistengeneration, klanglich geschult an den Partituren von Strauss und Debussy und verlockt durch die großen Beträge, die den Urheberrechtsgesellschaften seitens des Rundfunks zuflössen, schuf, soweit sie nicht dem Dodekaphonismus verfiel, gern neue Kompositionen, die dem Rundfunk zugedacht waren und diesem als nur ihm zugehörige Musik verblieben, außerhalb seiner aber kaum zur Geltung kamen.
Neben dieser neuen Unterhaltungsmusik half auch eine gleichfalls für den Rundfunk geschaffene folkloristische Orchesterliteratur mit, den immer fühlbarer werdenden Gegensatz zwischen der schweren Sinfonik und der flachen Schlagermusik auszugleichen. Für die Musik, welche Volksliedmelodien als thematische Grundlage aller möglichen Formen verwendete, gab es, ehe der Rundfunk kam, kein Vorbild. An die Stelle der klanglich nivellierten Salonorchestermusik waren Ensembles unterschiedlichster Größe und Instrumentalbesetzung getreten. Ihr Repertoire ergab sich aus Spezialarrangements neuer Unterhaltungsmusik, welche titelmäßig noch gern der um 1900 wuchernden Salonmusik der Charakterstücke entsprach.
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Und die neuen Bigbands waren eine enorme Bereicherung
Für die nach amerikanischen Modellen komponierte und arrangierte Tanzmusik und für die rhythmisch dieser angenäherte Unterhaltungsmusik wurden neben kleineren Combos Bigbands ins Leben gerufen. Indes hätte der Rundfunk mit seinen eigenen und den fallweise hinzuverpflichteten Orchestern den Bedarf an Unterhaltungs- und Tanzmusik nicht decken können, wenn ihm darüber hinaus nicht auch die Produktion der Schallplattenindustrie zur Verfügung gestanden hätte.
Er hat sich ihrer von allem Anfang an in reichem Maße bedient, setzte sie aber seltener mit orchestraler Unterhaltungsmusik ein, sondern behielt ihr ein Gebiet vor, auf dem er selbst kaum produktiv wurde: die Schlagermusik. Der Rundfunk wählt unter den ihm zentnerweise angebotenen Schlagerplatten aus, was ihm der Sendung würdig erscheint. Er wird manchem guten Schlager den Weg ins Volk geebnet, manchem minderen "Fabrikat", das er ablehnte, diesen Zugang verschlossen haben, aber auch umgekehrt.
Damit ist ihm die Mitverantwortung für Erzeugnisse einer kaufmännisch gerichteten Industrie aufgebürdet, die mit vorwiegend sentimentalen Schlagern, für die sich vor einigen Jahren die Bezeichnung "Schnulze" eingebürgert hat, dem Massengeschmack frönt und ihn niederhält. (diese Aussage ist von 1956 !!)
Eine Monopolstellung ist der (Vinyl-) Platte auch in bezug auf die Wiedergabe ausländischer Tanzmusik eingeräumt. Den weitgehenden Sieg des Amerikanismus beweisen Programmtitel wie Jazz-Club, Jazz-Festival, Jazz-Cocktail, Jazz-Studio, Jazz-Importen, Hit-Parade, Rock 'n Roll-Session usw.
Es versteht sich, daß die Ausführung der Unterhaltungsmusik im Rundfunk längst keine Angelegenheit minderer Sorgfalt ist, die eine summarische Behandlung zuließe. Sie beansprucht in allen ihren Spielarten ebenso erstklassige Musiker wie die Sinfonik, und überdies in Bezug auf einzelne Instrumente Virtuosen, wie sie einem Sinfonieorchester selten zur Verfügung stehen. Zu den dringendsten Aufgaben der Programmredakteure gehört es, der durch tausendfache Wiederholung oft erbarmungswürdig abgenützten Musik durch Findung neuer Programmtitel Gehör zu verschaffen oder ihre Einkleidung in ein neues orchestrales Gewand zu veranlassen.
Wo die Grenzen zwischen der ernsten und der Unterhaltungsmusik nicht mehr genau zu ziehen sind, da viele Kompositionen in beiden Komplexen Platz finden können, entscheidet fallweise der Rahmen des Programmes, in welchem sie stehen, darüber, welcher Kategorie sie zuzurechnen sind.
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