Ein Kommentar im SPIEGEL Heft 11 aus 1973
Wie in den Befragungen des Platten-Magazins fonoforum im Aug. 1973 waren auch in der kritischen allgemeinen Presse die Vorbehalte ziemlich deutlich formuliert worden. Im Jahr 1973 gab es nur ein paar wenige Weltstandards, die sich gezielt im Einvernehmen oder fast durch Zufall etabliert hatten.
Das waren
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- 1948 die Tonband-Normen der Amerikaner für Halbspur (und später) Viertelspur sowie die Aufnahme-Geschwindigkeiten 9,5 und 19cm/s,
- der UKW (FM-) Mono-Rundfunk ab 1951,
- die 45er Single Platte, die 33er (30cm) Mono-Langspielplatte ab etwa 1949-1952,
- die LP-Stereo Rille ab etwa 1958 und
- der absolute Zufallstreffer, die Philips Compact Cassette ab Aug. 1963
- sowie (aber dann wieder geplant) der UKW Stereo Rundfunk bei uns ab 1963.
- Beim Fernsehen gab es 1949 die sogenannte 625 Zeilen Gerber Norm für scharz-weiß und später
- ab 1954 das amerikanische NTSC- und das
- deutsche PAL Farbfernsehen ab etwa 1963.
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Und schon sind wir im Jahr 1972. (Übrigens, die letzte große Audio-Gemeinsamkeit - die CD kam erst richtig ab 1983 auf den Markt.) - Damit sind hier die interessanten wirklichen Weltstandards auch fast alle genannt. Und jetzt wollen "ein paar" Japaner und "ein paar" Amerikaner weltweit die Quadrophonie einführen. Jeder hat Recht und jeder hat das beste System, sagen sie jedenfalls. Und der mediale "Krieg" beginnt.
Dazu schreibt der Spiegel in Heft 11 / 1973:
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QUADROPHONIE - Grundsätzlich unbiologisch
Das Zeitalter der Quadrophonie kommt bestimmt; nur um das technische System wird noch gekämpft. - "Erinnern Sie sich, wie 'Stereo' Sie in den Konzertsaal versetzte". schwärmt der japanische HiFi-Hersteller Toyo, "jetzt versetzt Qaudio Sie mitten aufs Podium." - Das Mittel, dorthin zu gelangen, heißt "Quadrophonie". Qaudio ist nur einer von über einem Dutzend Phantasienamen, unter denen die neue Aufnahme- und Wiedergabetechnik vermarktet wird (bzw. werden soll).
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Mehr als Stereo
Und seit es gelungen ist, der Stereo-Schallplatte auch noch die zusätzlichen Informationen für die "verblüffende Verdoppelung der Stereophonie" ("Stereo Review") einzuritzen - und zwar nach verschiedenen Verfahren, ist der Kampf um das herrschende System ausgebrochen: Die meisten Geräte- und Plattenproduzenten schwanken zwischen einem Matrix-System (SQ von Sony/CBS) und einem sogenannten diskreten System (CD-4 von JVC Nivico).
Bislang galt das Matrix-System als das Aussichtsreichere: CBS verkaufte in den USA bereits über eine Million SQ-Platten: EMI, Vanguard und Capitol schlossen sich der Matrix-Fraktion an; zwei Dutzend große Hersteller liefern SQ-Geräte.
"Matrix" SQ gegen "discrete" CD-4
Doch in den letzten Monaten (Anmerkung : des Jahres 1972) hat das "diskrete" (deutsch: mit "getrennten" Kanälen arbeitende) Verfahren gewaltig aufgeholt: 168 CD-4-Platten sind jetzt im (japanischen) Handel; zu RCA und Metronome gesellte sich im Februar Amerikas größter Plattenkonzern WEA. Und selbst in manchem Platten-Studio der Matrix-Firmen werden die technischen Möglichkeiten der diskreten Quadrophonie inzwischen höher geschätzt als die von SQ "Was da rauskommt", so nörgelte Walter Carlos" als er seinen Moog-Synthesizer von einer SQ-Platte orgeln hörte. "ist nicht das, was reinging."
Man spricht vom Normen-Wirrwarr
Der Normen-Wirrwarr ist derzeit das vielleicht größte Handikap beim Eintritt ins quadrophonische Zeitalter, und es dürfte erst entfallen, wenn die bislang noch neutralen großen Platten-Produzenten (in der BRD: Polygram, Teldec - siehe fonoforum Befragung) sich entschieden haben.
Zweckoptimismus - die Industrie braucht Produkte
Daß die Quadrophonie kommt, ist allerdings nicht mehr die Frage: Der neue Sound, der sich (so "Newsweek") "zur Stereophonie verhält wie Farbe gegenüber Schwarzweiß", wird neuerdings sogar von den am Massenkonsum orientierten deutschen Geräteherstellern ernst genommen. Zur diesjährigen Berliner Funkausstellung (jeweils Ende August in Berlin)rüsten sie sich erstmals quadrophon die meisten für Matrix, nur die Prestigemarke Braun präpariert sich "wegen der höheren Qualität auch auf CD-4".
Die Perspektive ist gut :
Der Schritt von Stereo zu Quadro, den etwa Teldecs Chef-Tonmeister Martin Fouqué für "sehr viel größer" hält als den vor rund 15 Jahren begonnenen von Mono zu Stereo, hat Folgen nicht nur für Industrie und Konsumenten. Ein Reproduktionsrezept, das den Hörer mit Lautsprechern umstellt und konzentrisch beschallt, kann auf Kompositionstechnik und Konzertpraxis nicht ohne Einfluß bleiben; verwöhnte Vierkanal-Audiophile werden vielleicht auch live nicht ihren Mahler von allen Seiten vermissen wollen, den ihnen die Heimelektronik ertönen läßt.
Neue Speicher-Medien sind im Gespräch
Die Wunder und Möglichkeiten des neuen Mediums in der Zukunft sind noch kaum abzuschätzen. Schon experimentiert Teldec mit der (Anmerkung: mechanischen) Dichtspeichertechnik der (TED-) Bildplatte, auf der nicht nur vier, sondern auch sechs oder acht Tonkanäle unterzubringen wären. Denkbar wäre damit die Sexophonie oder Octophonie, aber auch etwa eine quadrophonische Opernaufnahme mit wahlweise italienischen, französischen oder deutschsprachigen Singstimmen.
Und jetzt endlch fällt der Begriff : "Konsumdruck"
Immerhin: Die Bewegung hat auch Kritiker mobilisiert, die auf den Konsumdruck- Mechanismus in der Entwicklung weisen; überflüssige Technik werde hier aus Profitgier zur neuen Hör-Mode aufgebauscht; die Kunst gar versaut.
Und er spricht es ganz deutlich aus:
"Grundsätzlich", meint Horst Söding, technischer Entwicklungsleiter von Polygram, "ist Quadrophonie etwas Unbiologisches. Der Mensch ist nun mal ein gerichtetes Wesen: Er hört nach vorn, nicht nach hinten. Deshalb liegt darin eine gewisse Unvernunft."
Doch während Söding kritisiert, daß die Industrie die Quadro-Geräte mit Druck "auf den Markt preßt", bereitet sich seine Firma gewissenhaft auf die "gewisse Unvernunft" vor: Wie alle großen Platten-Produzenten macht sie ihre Aufnahmen schon seit geraumer Zeit in Vierkanal-Technik, so daß sie den Markt jederzeit mit Quadrophonie-Platten bedienen könnte.
DER SPIEGEL 12.03.1973
Nachsatz aus 2015 - es war abzusehen
Die Techniker und die Marketing-Fachleute wußten es von Anfang an, keiner muß "es" wirklich haben, es ist ein "nice to have" Feature, also eine Eigenschaft, die den eh schon tollen Genuß noch weiter erhöhen soll (oder mag).
Und diese neue Eigenschaft steht auf ganz vielen extrem wackeligen Vinyl-Beinen und auch das wußte jeder hinter den Kulissen. Es gab aber Zwänge, mit neuen Produkten wieder mehr zu verkaufen, und eigentlich war es völlig wurscht, was da verkauft wurde, Hauptsache es wurde etwas verkauft.
Diese letztendlich durchsichtige (Firmen-) Politik des Eigeninteresses der Hersteller zu Lasten der Kunden wurde zum Bumerang. Die Kunden wurden verkauft - oder wie man heute sagt, verschaukelt bzw. geleimt. Und sie waren zurecht sauer. Eine "Kaufzurückhaltung"dauerte bis über 1985 hinaus an und viele renommierte deutsche Firmen mußten aufgeben, so auch DUAL und ELAC und andere.
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