Rückblick: Das gigantische Geschäft mit der analogen Vinyl-Schallplatte
Sept. 2012 - von Gert Redlich - Nach dem 2.Weltkrieg spiegelte sich in den Augen der Deutschen der Wunsch nach kleinen bezahlbaren Vergnügungen wieder und sie wollten sich zumindest an der Musik Ihrer Wahl erfreuen. Ende der 1940er Jahre bis Anfang der 1950er ging nämlich das junge Ehepaaar zusammen ins Kino, und als dann die ersten Kinder kamen, war's aus mit dem Kino, man(n) (nein, besser "die Frau") musste Zuhause bleiben.
Meine Eltern leisteten sich deshalb 1955/56 das erste große und teure Grundig UKW Radio (DM 598.- = für unseren Vater lag das deutlich über seinem Monatsgehalt). Für einen Plattenspieler war noch lange kein Geld da. Doch die Musik war oft "gewöhnungsbedürftig", hing viel zu oft am "trägen Geschmack" der Vorkriegsgenerationen und wandelte sich nur sehr sehr langsam. Man müsste vielleicht die Musik des eigenen Geschmacks spielen können.
Tonbandgeräte waren für die breite Masse vor 1960 nahezu unerschwinglich. Selbst wohlhabende Kinobesitzer gaben oft nicht das Geld aus, ihr Kino mit solch einem Bandgerät zu bestücken. Dort werkelte oft ein uralter Plattenspieler, ein richtiger Vinyl-Hobel.
Vor 1963 gab es nur wenige hochqualitative (meist ausländische) Plattenspieler zu sehr hohen Preisen. Der von den Plattenfirmen (hier in Deutschland West) sehnsüchtig herbei gesehnte Bergrutsch oder besser der Wunsch-Tsunami kam dann im August 1963 mit dem neuen DUAL 1009 Laufwerk. Das war für die allermeisten Mitbürger der erste Hifi-Plattenspieler zu einem attraktiven Preis, also durchaus von der breiten Masse bezahlbar.
Es gab zwar schon recht gute Plattenspieler wie den DUAL 1006, doch das waren aus heutiger Sicht immer noch sogenannte "Gurken". Der neue DUAL 1009 war völlig anders, sah richtig modern aus und machte Appetit auf hohe Musik-Qualität.
Der Plattenspieler schwang sich zu einem Höhenflug auf.
Jetzt mußte und konnte die Plattenindustrie nachlegen.
Ein Höhenflug ohnegleichen begann. Es wurde an Musik und Schnulzen alles aufgenommen, das irgendwie auf die Studio-Bänder drauf paßte, der 35te Richard Wagner oder die 66te Tschaikowski Einspielung und natürlich Freddy Quinn und Marianne Rosenberg und Alexandra und selbstverständlich der 99te James Last wurden aufgelegt. Die Schreiberlinge konnten gar nicht so schnell ihre Kompositionen und Noten pinseln, wie die Plattenfirmen nach noch mehr Hits lechzten. Manche Platten waren in so kurzer Zeit ausverkauft, daß sofort nachproduziert werden mußte.
Und James Last (samt der Plattenfirma Polydor) war einer der großen Gewinner der Euphorie, denn seine "Non Stop Dancing" Platten waren von außerordentlich guter technischer Qualität. Der Inhalt war oft von bemerkenswerter Trivialität und manche seiner Platten konnte man nicht mehr zu Ende hören, weil es nach dem 3. (annähernd gleichen) Stück langweilig wurde.
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Und deshalb hier eine Glosse aus dem fonforum von 1970.
Dazu gehört aber auch die Information, daß die Plattenfirma Polydor mit den James Last Platten (und später mit den "AAD Remake" CDs) weit über 65% ihres gesamten Jahres-Umsatzes und den Großteil des Firmen-Ertrages erwirtschaftet hatte. In der Funkschau und im fonforum wurden über Jahre reglmäßig und stolz die jeweils aktuellen Umsatzzahlen veröffentlicht.
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JAMES LAST:
Neuer Sound und alte Hüte - Anmerkungen zu einer Party-Kassette . . . . . . . eine Glosse aus 1970
Niels Frederic Hoffmann schreibt über den ganzen James Last Rummel:
Marktlücken müssen gefunden werden. Wer sie findet und dann auch noch angemessen ausfüllen kann, ist ein gemachter Mann. Dies gilt schon lange nicht mehr nur für Autos, Kühlschränke und Textilien, sondern sicher auch für Musik, besonders, wenn sie auf Schallplatten verkauft wird. Im gleichen Maße nämlich, in dem Musik nicht mehr das Privileg von Kennern mit festen, kritischen Maßstäben ist, nimmt auch ihre Beurteilung nach musikautonomen Normen immer mehr ab. Sie erklärt sich zunehmend aus ihren wirtschaftlichen Bedingungen.
James Lasts Erfolg beruht auf der Tatsache, daß er eine musikalische Marktlücke gefunden hat: die Party.
„A gogo", Hits am laufenden Band . . . .
Deutschlands Platten-Partykönig bietet sie verschwenderisch. Die Generation der Twens und Teens braucht ihn sicher nicht; sie stellt sich ihre Partybänder nach eigenem Geschmack selber zusammen. Aber auch die Väter und Mütter wollen feiern, ohne allzuviel Zeit in die musikalische Vorbereitung zu investieren. Hier springt James Last hilfreich ein mit Liedern von der See (Käpt'n Last bittet zum Tanz, Polydor 249 252), mit Beat und Sweet (Polydor 249 002), Volksliedern (Ännchen von Tharau, Polydor 249 028, 249 326), oder für den lustigen Tanz unterm Weihnachtsbaum - man kann ja nie wissen - mit einem „Christmas Dancing" (Polydor 249 088).
Nun ist die Partyplatte gewiß nicht James Lasts Erfindung. Tanzmusik aus Bayern, von der „Waterkant" und für den Fasching gibt es schon lange. Sie kann sogar — auch das ist ein Gütezeichen nicht nur der Unterhaltungsbranche — „original" sein. Nur ist sie nicht modern wie James Last und sein Sound. Denn der Vierzigjährige „mit den vielen, winzigen Lachfalten unter seinen Augen" ist mehr als nur ein Arrangeur und der Leiter einer Kapelle. Er ist ein Erfinder, er ist der Erfinder des James-Last-Sounds.
Beinahe wie Glenn Miller
Was ein Sound ist und was es heißt, ihn zu erfinden, wissen wir seit Glenn Miller. Er hat damals dadurch, daß er den Diskant des Saxophonsatzes von einer Klarinette spielen ließ, eine für alle seine Arrangements unverwechselbare Eigenheit gefunden.
Natürlich gehört zu einem Sound mehr als nur eine charakteristische Instrumentation: Ebenso gehören dazu Vortrag, Vibrato, Begleitungseigenheiten, in neuerer Zeit auch Aufnahmeraffinessen und last not least die Tatsache, daß der Sound bekannt und damit zum Politikum wird.
Neben Herb Alpert ist dies in jüngster Zeit vor allem James Last gelungen. Sein Orchesterklang zeichnet sich durch eine massive Hauptstimme aus, die er gerne durch einen vokalisierenden Chor (aus sogenannten Heulsusen) unterstützen läßt. Die Melodie wird vorwiegend von Trompeten im Unisono (Trumpet ä gogo, I - III), von Geigen, von Hammondorgel (Hammond a gogo 1-4 ) vorgetragen; Begleitstimmen werden mit Ausnahme von parallelen Terzen und Sexten zur Hauptstimme nur sehr vorsichtig und zur harmonischen Füllung eingesetzt.
Wichtig ist noch die Perkussion, sie bringt das rhythmische Äquivalent zur Hauptstimme und wird modisch gehandhabt: Last kultiviert eine vom Bossa nova hergeleitete und weiterentwickelte Rhythmik, eine Mischung aus Südamerikanisch und Beat. Das also ist der Last-Sound. Musikalisch nicht allzu aufregend, aber vielseitig einsetzbar vor allem für alte Kamellen.
Es ist ja das Geheimnis eines neuen Sounds, daß man mit ihm Bekanntes mit einem neuen Kleid versehen und dadurch sogar allzu Bekanntes wieder attraktiv machen kann. Das wußte schon Glenn Miller, einer der ersten, der im großen Stil alte Nummern aufwärmte.
1970 - Ein Bedürfnis wecken, ein Bedürfnis ausfüllen . . .
Das Bedürfnis nach einer solchen Musik scheint bezeichnend für eine große Schicht von Käufern: Sie möchten einerseits „in" sein, sie möchten modern sein, sie möchten die Musik auf ihren Partys haben, die auch in Breitwandfilmen bei Millionären zum Tanz einlädt; sie möchten gerne einen Hauch jener Frivolität verspüren, den Worte wie „Pfänderspiel" heute vermitteln und die natürlich auch dem der jüngsten James-Last-Kassette beigefügten Brettspiel nicht fehlen.
Aber das alles darf nicht wirklich neu sein, es muß im bekannten Rahmen bleiben. Der Umgang mit dem Neuen bleibt auf einen Flirt beschränkt — Modernismus statt Modernität. „James Last bittet zum Tanz", die schon erwähnte Kassette, ist der bisherige Höhepunkt im Plattenschaffen des kreativen Sound-Masters. Sie besteht aus drei Platten, die Last im trauten Umgang mit Evergreens, Klassikern und Lehär zeigen.
„James Last bittet zum Tanz" - Sie besteht aus drei Platten:
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- Auf Platte Nr. 1 sind viele muntere Leute zu hören, die fröhlich miteinander schwatzen und lachen, und im Hintergrund spielt James Last die immergrünen Weisen in seinem James-Last-Sound. Wer auf seinem häuslichen Treffen mit Freunden das Gefühl haben möchte, auf dem Presseball zu sein, dem ist diese Platte durchaus anzuraten. Härter wird es bei den beiden anderen Platten, die man ja (zuerst) mitkaufen mußte:
- Platte Nr. 2 „Classics up to date" ist Lasts Beitrag zu der neuerdings wieder sehr verbreiteten Manier, sogenannte ernste Musik modisch aufzubereiten. Keines von Omas Vorzugsstücken aus dem Wunschkonzert wird ausgelassen. Aber weder besitzen die Arrangements den etwas plumpen Witz verjazzter Nummern noch bringen sie, wie etwa die elektronischen Versionen von Bach oder Scarlatti, Klang Experimentelles.
Was James Last hier bietet, ist nicht nur mäßig gemacht, es ist auch noch gemein. Wer im Adagio der Pathetique die Figuren der linken Hand von Klavier und Gitarre spielen läßt, die Melodie Geigen und obligatem Chor anvertraut, über die laufenden Viertel einen Samba-Rhythmus setzt und nun behauptet, Beethoven sei „up to date", ist nicht deswegen zu verurteilen, weil er sich an den Gütern der Nation vergreift, sondern weil er Leute für dumm verkauft.
Hier wird nichts Altes neu geboten, sondern Schindluder getrieben mit dem Bildungskomplex Unterprivilegierter, denen suggeriert wird, wenn sie nach Beethoven tanzen, könnten sie kompensieren, was ihnen durch mangelnde Schulbildung vorenthalten wurde.
Schlechter Geschmack ist niemandem vorzuwerfen; aber daraus Geld zu machen ... - Platte Nr. 3 - „Happy Lehar" - bedarf hiernach kaum noch langer Worte: Was einmal als spritzige Melodie bezeichnet werden konnte, quält sich im Unisono und in immer gleichem - dann langweiligen Tempo (getragene Viertel, auch das ist so eine Eigenheit des Sounds) voran.
Wieder soll etwas suggeriert werden, die Partystimmung der Operette nämlich, mit bunten Uniformen, Sekt und Zigeunern: Dies war schon immer das Theater derer, die es sich selber nicht leisten konnten. Aber daß sich so etwas nicht akustisch ins Wohnzimmer zaubern läßt, merkt man spätestens, wenn die Feier zu Ende ist.
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Obiges ist ja nur eine Glosse . . . oder ?
Ob der "James" es auch gemerkt hat? Aber wenn schon - sicher wird ihn diese Erkenntnis nicht davon abhalten, sich weiterhin strebend um neuen Sound für alte Hüte zu bemühen. Deutschland, deine Partys ........
Eine Glosse von Niels Frederic Hoffmann aus dem Jahr 1970.
Und wie ging es weiter ?
. . . . als dann 1983 (endlich) die CD kam . . . .
konnte der ganze alte Fundus (so nennt man das Lager eines Museums) nocheinmal "zweitverwertet" werden und das zu richtig guten Margen. Denn die analogen Masterbänder waren ja alle sorgfältig eingelagert, die edlen und ehemals teuren analogen Master-Bandmaschinen waren alle in sehr gepflegtem Zustand in den Studios vorhanden.
Die neue Digitaltechnik war vergleichsweise billig, weil hier schon ganz viele kleine und große Hersteller aus aller Welt in den Startlöchern standen. Die eigentliche Digitalisierung einer LP dauerte nicht allzulange und die Herstellungskosten betrugen somit erheblich weniger (einen Bruchteil) als bei der Vinyl-LP bzw. bei den ursprünglichen Aufnahmen.
Die Vinyl-Plattenverkäufe stagnierten bereits, alle Kunden warteten 1982/83 wie gebannt auf das goldene digitale Ei aus der höllandisch japanischen Henne. Philips und Sony und Herbert von Karajan machten ja jedem den Mund wässrig. Die Hifi-Magazine taten ein Übriges und die Hersteller-Firmem hatten seit wenigen Jahren richtigen Leidensdruck, was die Umsätze anging.
Also auf ein Neues. In den wenigen Jahren nach 1983 kam "so gut wie alles" aus der Vinyl-Welt als CD raus und verkaufte sich prächtig. Die Umsätze der Labels sprangen in Größenordnungen, es war schier unglaublich. Und die Gier sprengte alle Maßstäbe, daß es endlich "unendlich lange" so weitergehen möge. Und das gilt nicht nur für die Plattenhersteller, das galt und gilt auch für die GEMA, die kräftigst mit dabei war.
Der Unterschied ist nur, die Plattenlabels mußten ihre CDs nach wie vor verkaufen, inzwischen etwas mühsamer als früher. Die GEMA erhöht einfach die Preise.
Ja so ist das in einer Demokratie. Aber auch das läßt sich ändern.
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Den Irrsinn solch einer Entwicklung sieht man daran, . . .
. . . daß man den weißhaarigen greisen James Last an irgendeine wunderschöne laue und warme Golfküste in Mittelamerika "transportiert" hatte, um dann Fernsehaufnahmen von uralten James Last Titeln "Hits a gogo" - mit dem müden zittrigen und klapprigen Dirigenten vor einem jungen (Schul-?) orchester - zu machen.
Als ich diese fürchterlich gequälte 45 Minuten Sendung gesehen hatte, war mir richtig übel, genau wie damals bei dem greisen 94-jährigen Heinz Rühmann oder etwas später dem 104-jährigen Johannes Hesters in diversen "Wetten dass?" Shows, wobei "sie" den Herrn Hesters erst mal bis hinter die Bühne tragen mußten. Es ist beschämend, wohin die Gier einen treibt.
Das ist das Ende des traurigen Kapitels der gigantischen Geschichte vom gigantischen Geschäft. Die Zeit wird es zeigen, die Welt entwickelt sich weiter und die Labels braucht bald keiner mehr. Mal sehen, was in 2020 noch davon übrig ist.
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